Weitere Pilgerberichte aus anderen Jahren sowie Beschreibungen der
Planung usw. finden sich auf der
Übersichtsseite.
(Achtung: Am Ende der folgenden Berichtsübersicht
stehen Nachträge von 2001 bis 2006.)
Autor: Rudolf FischerMeine Netzadresse: Rudolf.Fischer bei Esperanto.de Zurück zur Übersichtsseite |
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Da nahm ich die Muschel...Der Weg ist nicht das Ziel,
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"Wahnsinn!" war auch mehr oder minder ungeschminkt die Reaktion in meiner Umgebung, wenn ich damit rausrückte, "die Muschel nehmen" zu wollen, um als Pilger zu Fuß (für viele eine Horrorvorstellung) 800 Kilometer durch Nordspanien zu laufen. Wenige reagierten anders, bewunderten die sportliche Leistung oder schwärmten unter dem Eindruck der umfangreichen philosophischen oder romantischen Pilgerberichte aus den letzten Jahren von einem sicher einmaligen geistigen oder kulturellen Erlebnis, das ich haben werde. Um es vorwegzunehmen: die Wirklichkeit war ganz anders!
Wahnsinn war es schon, aber nicht die Strapazen des Fußmarsches, sondern die alles überschattende Lemmingflut der "Pilger", die auf der Jagd nach dem letzten Refugio-Bett in Kolonnen um die Wette liefen, lärmend in jeden stillen Winkel einbrachen, alles verbrauchend und verschmutzend, Hektik bis hin zur Panik, Konkurrenzdenken bis hin zur Feindseligkeit im Kampf um die knappen Hilfsmittel verbreitend.
Nun, es war die Hauptferienzeit in Spanien und auch in Frankreich. Im Juli und August schwillt daher die Pilgerflut an wie ein Gebirgsbach zur Schneeschmelze. Auch im Juni und September soll es schlimm sein, in den übrigen Monaten weniger. Aber wer kann schon außerhalb des Sommers so lange Urlaub bekommen? Und außerdem ist besonders in den Bergen in der übrigen Zeit mit heftigen Wetterunbilden zu rechnen. Auf dem Cebreiro soll es in den vergangenen Jahren im September einmal 40 cm Neuschnee gegeben haben!
Man muss also die Hauptferienzeit berücksichtigen, wenn man den folgenden überwiegend negativen Bericht liest. Hinzu kommt, dass ich nicht zu den Menschen mit rosaroter Brille gehöre und manches vielleicht negativer sehe als andere. So hat meinen Sohn Harald das für mich albtraumhafte Zusammengepferchtsein in den Refugios wesentlich weniger gestört; ich habe darunter gelitten, was sicher auch eine Altersfrage ist. In diesem Sinne sollte der Leser meine persönlichen Einstellungen nicht allzu sehr verabsolutieren.
Von einer Vorstellung kann man jedenfalls Abschied nehmen: auf dem Jakobsweg ist (zumindest im Sommer) von Pilgern fast nichts zu bemerken. Wenn ich im Folgenden von Pilgern rede, so bin ich immer in Versuchung, das Wort in Anführungsstriche zu setzen; denn echte Pilger traf man nur wenige. Da gab es die, die aus sportlichen Motiven unterwegs waren (da drehten sich die Gespräche hauptsächlich darum, wer mehr Kilometer pro Tag "geschafft" hatte); in diese Kategorie fielen fast alle Radfahrer, mit ihrer modischen Kostümierung und ihren teuren Sporträdern. Da gab es die unzähligen (meist spanischen) Touristen, für die der Jakobsweg ein billiger Urlaub war, für ein oder zwei Wochen, manchmal nur ein Wochenende.
Freizeithospitalero Uli fasste in Cebreiro zusammen:
Nun, bei diesem Fazit soll es natürlich nicht bleiben. Es gab auch viel Positives, und alles in allem war es natürlich ein einmaliges Erlebnis. Dazu ist in den folgenden Kapiteln noch im Einzelnen viel zu sagen. Mein Bericht soll zugleich eine Momentaufnahme sein, was nützliche Informationen angeht; denn auch die neusten Handbücher erwiesen sich in sehr vielen Angaben als schon wieder überholt. Auf dem Camino ändert sich alles schnell, auch das sollte der Leser meines Berichtes im Auge behalten. Eine Herberge, die im Jahre 2000 neu und toll ist, wird ohne Renovierung bei der extremen Nutzung durch die Pilgerscharen in wenigen Jahren heruntergekommen sein. Die einzelnen Wegabschnitte ändern sich ebenfalls häufig, vor allem in Folge des Straßenbaus. So ist der Talweg zwischen Villafranca del Bierzo und Ambasmestas vor dem Aufstieg zum Cebreiropass wegen des dortigen Autobahnbaus praktisch nicht mehr benutzbar.
Nein, nicht mein Schnarchen, sondern einer der folgenden Laute:
Es folgen jetzt allgemeine Informationen. Hier eine Übersicht über die Abschnitte (die auch direkt aufgerufen werden können):
In Saint-Jean-Pied-de-Port waren unglaublich hohe Preise: 0,25 l Bier für 15 fr (etwa 5 DM). Es ist eben ein Touristenort.
Spanien ist wie bekannt relativ billig. Zur Grenze nach Frankreich
hin war es in Roncesvalles (ebenfalls Touristenort) noch teurer.
Das fast überall zu bekommende Touristenmenü (Vorspeise,
Hauptgang, Nachtisch, dazu Brot und Getränk) lag zwischen 900 Peseten
und 1.300 Peseten. Die Auswahl war nicht mehr so gut wie vor 2 Jahren.
Auch gab es den Rotwein zugeteilt.
Achtung: Trick! ;-) Es gibt merkwürdigerweise fast immer pro Tisch eine Flasche Rotwein (sofern man nicht ein anderes Getränk wünscht), egal, ob man allein oder zu viert ist. Will man also zu viert ein Pilgermenü essen und ist einem eine viertel Flasche zu wenig: einfach zunächst getrennt an zwei Tische setzen, bestellen, den Wein kommen lassen und sich dann als Pilgerfreunde "kennen lernen" und am Ende zusammensetzen.
Nun waren wir immer zu zweit und sahen, wie an den Nachbartischen halbe und viertel Flaschen stehen blieben. Die Versuchung war groß, unsere leere Flasche blitzschnell auszutauschen, nachdem der Gast weg war und der Wirt noch nicht abgeräumt hatte. Aber erstens haben wir uns doch nicht getraut, das zu tun, und außerdem war eine halbe Flasche pro Kopf für uns doch genug, wie sich zeigte, als wir einmal mehr getrunken hatten. :-(
Nicht nur Bier, auch andere Lebensmittel :-) variierten ansonsten landesweit nur gering im Preis.
Private Unterkünfte: Im August teils wegen der Ferienzeit teuer, ansonsten Doppelzimmer (ohne Bad) 3.000-4.000, mit Bad 4.000-5.000 Peseten. In den Städten wegen der Konkurrenz eher billiger als auf dem Land. Unsere teuerste Unterkunft war in Corcubión für 7.000 Peseten, aber einschließlich eines (kargen) Frühstücks, das gewöhnlich nicht inbegriffen ist. Mit der Mehrwertsteuer N.V.A. gab es keinen Ärger; sie wurde nur in einem erkennbaren Ausnahmefall extra berechnet. Trinkgeld wird nicht erwartet, aber gern genommen, wobei 100 Peseten schon was gelten. (In der Kirche pflegt man 25 Peseten in den Klingelbeutel zu tun.) 1 Glas Wein 0,1 l ist das Standardgetränk der Spanier an der Theke; es kostet etwa 100 - 150 Peseten und wird oft nicht leer getrunken. (Auch beim Essen bleiben oft Reste liegen.)
1 Stangenbrot kostet um 100 Peseten, 1 l Milch ebenfalls, 1 l Fruchtsaft (Standardgetränk unseres Frühstücks) 100-130 Peseten. Es gibt im kleinsten Laden eine erstaunliche Auswahl von Aufschnitt. Fast jeder Ort hat einen Lebensmittelladen ("Supermercado" oder "Alimentación"), der normalerweise auch gut von außen gekennzeichnet ist. Die Öffnungszeiten sind überall verschieden und werden in der Regel nicht angegeben. Meist sind die Läden zwischen 14 und 18 Uhr geschlossen. In einigen Städten gibt es sogar am Sonntag etwas zu kaufen, insbesondere, wenn einmal im Monat "Markttag" (am Sonntag!) ist.
Postämter sind selten und haben nie ihre Öffnungszeiten vermerkt. Briefmarken kauft man sowieso in "tabacos"-Läden. (Porto für eine Ansichtskarte nach Hause: 75 Peseten)
Bankautomaten gibt es in den Städten haufenweise, nur in kleineren Orten nicht. Nicht nur ich hatte großen Ärger mit den Automaten. Der Dialog war manchmal nur auf Spanisch. Mal gab es dann Geld, mal keins, mit wechselnden Fehlermeldungen: "zu viele Operationen" (?), "Bankkarte für RD 300 nicht zugelassen" (??) und ähnliche sphinxhafte Auskünfte. Meine Frau brachte zu Hause in Erfahrung, dass man bei Postbankkarten "Kreditkarte" (und nicht "Sparkonto" und nicht "Girokonto") drücken muss (auch bei einer Karte für ein 3000-plus-Sparkonto), wenn dieses in einem Dialog mit den Automaten gefragt wird (was nicht immer der Fall war). Mal waren auch 50.000 Peseten kein Problem, dann waren wieder 30.000 Peseten die Obergrenze. Insgesamt verwirrend und schweißtreibend.
Bei den Restaurants gab es ebenfalls ärgerliche Tricks. In León und Santiago signalisierte ein "Menú del día" (Tagesmenü), dass es dieses nur mittags gab (trotzdem blieb es als Kundenfang draußen hängen). In anderen Städten gab es das "Menú del día" auch abends. Ein "Menú de la casa" (Menü des Hauses) oder ein "Menú del peregrino" (Pilgermenü) gab es in der Regel auch abends. Es war meist billiger (aber ohne Preisvorteil für Pilger), als nach der Speisekarte das Essen zusammenzustellen. Aber: Die draußen angeschlagenen Alternativen für die verschiedenen Gänge gab es selten. Statt dessen wurde das aktuelle Angebot so schnell runtergerasselt, dass niemand etwas verstand. Naja. Auf Nachfrage habe ich aber in Santiago das (nicht mehr angeschlagene) "Menú del día" abends doch noch zum Mittagspreis bekommen. Allgemein kann ich sagen, dass wir nie übers Ohr gehauen worden sind. Alle Preise hängen im Gastraum aus. Manchmal muss man draußen am Tisch mit Bedienung 25 Peseten mehr bezahlen als innen an der Theke. Auch auch das ist dann auf der Preisliste vermerkt.
Private Refugios nehmen für eine Übernachtung 500-1.000 Peseten. (Ausnahme: 1.500 in Santa Irene) Das ist sehr angemessen, denn man bekommt für 1.000 P. immerhin eigene Bettwäsche.
Der Segen des Camino sind die Bars. Sie nennen sich "Bar Café" laut Schild, im Gegensatz zu den Restaurants. Man bekommt dort Getränke aller Art, insbesondere den Café con leche, den Milchkaffee, Hauptnahrungsmittel der Pilger :-), bei dem die Wirte längst zurückfragen: "Grande?" ("Si, si!"), und dann gibt es wirklich große Becher (125 - 200 P.). Über den "Café con leche" sind schon Hymnen geschrieben worden. Ich kann es verstehen (siehe "Pilgers Tagesablauf"), ich unterschreibe sie alle. Hinzu kommt: in jeder Bar sind Pilger willkommen. Die Wirtsleute sind persönlich und freundlich (auch wenn die Pilger dreckig reinkommen und alle gleich erst einmal auf die Toilette rennen) und ganz entzückt, wenn sogar Ausländer etwas Spanisch können (siehe "Sprache und Verständigung"). Auch gibt es in den Bars das etwas festere Grundnahrungsmittel "Bocadillo", ein großes belegtes Brötchen, das den Pilgern als Mittagessen dient (200-450 Peseten, je nach Belegung). Sonst gibt es noch "tostadas" (belegte Röstbrotschnitten), "tortillas" (Pasteten), Croissants, "tapas" (Happen) und andere Backwaren. Warmes Essen gibt es nur in Restaurants, die aber fast ausnahmslos erst abends öffnen (meist ab 20 Uhr).
Manchmal ist eine Bar in ein Restaurant integriert. Das hilft einem aber nichts, da warmes Essen trotzdem nur abends ausgegeben wird. Sehr ärgerlich ist, dass die Abendessenszeiten nirgendwo angezeigt werden (die Spanier wollen sich wohl die Freiheit lassen, wann sie die Küche denn genau öffnen) und dass diese, dem Tagesablauf der Spanier folgend, so spät liegen, 20 oder gar 21 Uhr, für Pilger eigentlich fast untragbar. Zur fehlenden Nachtruhe hat oft auch der volle Magen beigetragen... Wenn ein Refugio zudem schon um 22 Uhr eisern geschlossen wurde, war ein Abendessen auch zeitlich kaum zu schaffen.
Mit wenigen Ausnahmen gaben die Hospitaleros ihre Erläuterungen nur in Spanisch (dazu noch sehr schnell) ab. Gleich in Roncesvalles musste ich das, was ich verstanden hatte (etwa 3/4), auf Niederländisch an ein Ehepaar weitergeben, das neben mir stand und gar nichts mitbekommen hatte. Dabei brauchte man einige Informationen, z.B., wann das Refugio abends schließt, wirklich dringend.
Ich hatte ein Spanisch-Wörterbuch dabei, das praktisch pausenlos in Gebrauch war. So machte mein rudimentäres Spanisch auch wortschatzmäßig gute Fortschritte, und ich handelte mir sogar ein paar Mal ein Lob ein: "Ja, die Deutschen, die können gut Fremdsprachen!" Einmal fragte man mich, ob ich denn Spanisch in der Schule gelernt habe ("Nein, selbst beigebracht aus einem Buch." "Unglaublich!") Nun ja, das Geheimnis jedes Erfolgs ist oft einfach der gewitzte Einsatz sehr beschränkter Mittel, wobei diese dann ein breites Wissen vortäuschen. Kennt man aus jeder erfolgreichen Examensprüfung! :-)
Die Einheimischen atmeten immer sichtlich auf, wenn man sich für sie verständlich äußerte. Es galt dabei die Regel: Je besser einer Spanisch konnte, um so mehr erreichte er, vor allem in Problemsituationen. (Eine Pilgerfreundin schaffte es sogar, dass sie privat bei einem Bauern unterkam, als das benachbarte Refugio wieder hoffnungslos überfüllt war. Ein anderes Mal kutschierte man sie im Privatauto zu einer 16 km entfernten Kirche; ebenso, als sie einige Kilometer zurück ihren Fotoapparat hatte liegen lassen.)
In Einrichtungen des Tourismus versuchte man manchmal, uns gleich auf Englisch anzusprechen. Nachdem ich dann auf Spanisch antwortete, schaltete man sofort um. (Das Englisch war sowieso meistens von der Aussprache her fast unverständlich.)
Unter den verschiedensprachigen Pilgern diente in der Regel Englisch als Verständigungspidgin. Dabei merkte man dann, wie wenig man kann, wenn man es nicht regelmäßig verwendet. Insgesamt blieb die Sprachbarriere fühlbar: die Pilger tun sich in den Refugios meist nach Sprachgruppen zusammen. Konflikte zwischen Verschiedensprachigen können nicht geklärt werden; es fehlt ferner die Möglichkeit, manches sprachlich diplomatisch abzufedern. Gesten reichen dazu nicht aus. Man liest oft etwas anderes, aber das ist Quatsch und resultiert aus Wunschdenken. Es gibt kein Verständnis, ohne dass die Verständigung gewährleistet ist. Auf dem Camino ist mir wieder einmal aufgegangen, wie ganz anders es unter Esperantosprechenden zugeht und wie schwer Englisch gegenüber Esperanto ist.
Die Spanier sind ein fröhliches und freundliches Volk. Den Fremden betrachten sie mit Abstand, bis sie merken, der kann etwas Spanisch. Dann fragen sie einen gleich aus, und der Bann ist gebrochen. Hilfsbereitschaft wird groß geschrieben. Versteht man die Ortsbeschreibung nicht, führt einen einer am Ärmel hin. Fragen (und damit etwas Spanisch können) lohnt sehr, nirgends wird man mürrisch abgewiesen.
Ausnahme: In einer (vollen) Fernfahrerbar in Portela vor Ambasmestas sahen die Angestellten durch uns hindurch und bedienten uns einfach nicht. In einem anderen Pilgerbericht las ich, dass der Autor auch genau in dieser Gegend eine ausnahmsweise mangelnde Freundlichkeit hervorhob. Er führte es darauf zurück, dass die Menschen durch den Autobahnbau verstört sind, denn die Autobahn wird ihnen die meiste Kundschaft wegnehmen. Ich halte das als Erklärung für sehr glaubwürdig.
Pilger sind - zumindest auf dem Hauptweg (Camino Francés) - bekannt und als solche ausgewiesen. Viele schauten neugierig auf, wenn wir zwei abenteuerlichen Gestalten uns näherten. Wir grüßten auf dem Land immer, in den Städten oft. Dann ging ein Lächeln über die Gesichter, und man wurde freundlich zurückgegrüßt. Besonders bei alten Leuten, die vor dem Haus saßen, fiel mir auf, wie sehr sie es brauchten, gesehen und beachtet zu werden. Von ihnen wurde uns auch oft ein "gute Reise", "viel Glück auf dem Camino", usw. nachgerufen. Einige saßen den ganzen Tag an einer etwas unübersichtlichen Abzweigung und "lauerten" darauf, dass man als Pilger Miene machte, den falschen Weg zu gehen. Dann kam Leben in sie, dann hatten sie eine Aufgabe: Sie winkten und riefen: "Nein, hier entlang!" Oft (aber nicht immer!) hatte ich es selbst gerade schon bemerkt, aber wir bedankten uns immer sehr. Das gab ein gutes Caminogefühl auf beiden Seiten!
Ein Phänomen unter den Wartenden am Camino ist Doña Elisa. Inzwischen kennt man sie schon aus Fernseh- und Zeitungsberichten, aber diesmal sollten wir sie persönlich kennen lernen. Ich hatte ganz vergessen, vor welcher Stadt sie wartet: es war Logroño. Wir hatten die Umgehungsstraßen schon hinter uns und stapften durch ein ärmliches Hüttenviertel vor der Stadt. Ein kleiner Hund, angebunden, kläffte und kläffte. Wir wussten nicht, dass er ein Alarmsignal für eine kleine, sehr alte Frau war, die eilig an zwei Tische vor ihrer Hütte humpelte. Da war sie: Doña Elisa in Person und lachte uns herzlich mit zahnlosem Mund entgegen. Ich grüßte höflich und fragte: "Sind Sie die berühmte Doña Elisa, die wir in Deutschland im Fernsehen gesehen haben und über die in deutschen Zeitungen berichtet wurde?" "Ja, klar" lachte sie und fuchtelte mit den Armen, und dann ergoss sich ein Redeschwall über uns, von dem ich nur Bruchstücke verstand. 50 Jahre (so glaubte ich zu verstehen) säße sie nun schon hier, hätte den Bau von manchen Refugios in Gang gebracht, wo die zuständigen Priester immer nur geredet hätten. Damit überreichte sie uns zwei Faltblätter mit Informationen zu allen Refugios im Rioja, der kleinen, berühmten Weinprovinz, wozu Logroño gehört. Wir legten bewundernd zwei 100-Peseten-Stücke in die Sammelschale, die sie uns unaufdringlich zuschob. Die Bewunderung war echt. Da hat ein Mensch seinen Platz und seine Aufgabe gefunden, setzt sich für andere ein und strahlt auch im hohen Alter trotz offensichtlicher Armut Lebensfreude und Freundlichkeit aus. Wer von uns hat es weiter gebracht? Ausnahmsweise ließen wir uns von ihr unseren Pilgerausweis stempeln, was wir sonst oft verwehrt haben. Wir wollten grundsätzlich nur Stempel von den Orten, an denen wir übernachteten. Kurz darauf ärgerten wir uns sehr, dass wir vor aller Rührung vergessen hatten, von ihr ein Foto zu machen. Sie ist eine der Personen des Camino, die man nicht vergisst.
Eine verbreitete "Unsitte" (aus unserer Sicht) ist die Neigung der Spanier, "so laut" zu sein. Tatsächlich gibt es hier gewaltige interkulturelle Unterschiede. In den Bars dröhnt pausenlos der Fernseher, auch wenn keiner hinguckt. Eine normale Unterhaltung wird in einer Lautstärke geführt, die bei uns nur ein Streit sein könnte. Das nervt in den Refugios, in denen man Ruhe sucht, sehr. In Pedrouzo wurde abends im dunklen Schlafsaal mehrmals um Ruhe gebeten, da zwei Spanier sich in benachbarten Betten unterhielten, als müssten sie eine Straße überschreien. Sie machten weiter, flüstern kannten sie nicht. In Villadangos del Páramo kam zur Pilgerschlafenszeit von 22 Uhr eine ganze Familie in den Schlafraum und begrüßte lautstark eine andere, ihr bekannte Familie, die auch schon im Bett lag. Das Licht wurde angeknipst, und dann nahm ein Familientreffen seinen lautstarken Verlauf. Das war dann doch auch den anwesenden Spaniern zu viel, und sie protestierten energisch gegen diese Ruhestörung, bis sich die Besucherfamilie, keineswegs hastig, zurückzog. Die Erklärung für diesen Vorfall liegt darin, dass wir aus der Sicht der Besucherfamilie "am hellichten Tag" im Bett lagen, nämlich um 22 Uhr, wenn die Spanier erst richtig munter werden. In mancher Stadt habe ich es erlebt, dass es 21 Uhr zum Essen, 23 Uhr zum Trinken und 1 Uhr zum Feiern ging. In Mansilla de las Mulas fuhr ich um 3 Uhr hoch und wollte gerade wütend nachsehen, wer denn da im Erdgeschoss betrunken rumgrölte, bis ich merkte, dass der Lärm von unten von der Straße her durch die geöffneten Fenster kam. Zugespitzt gab es nachts deshalb oft die Alternative: Ersticken oder Ertauben.
Wegen dieses Tagesablaufs auch unsere zeitlichen Schwierigkeiten mit den Restaurants. Auch viele Bars machten zu unserem Leidwesen erst um 8 Uhr oder noch später auf, wenn wir längst unterwegs waren und nach einem Café con leche lechzten.
Weitere spanische Untugenden sind das starke Rauchen (zuweilen auch verbotenerweise im Refugio) und die Mobiltelefonitis. Einmal konnte ich an einer Aufschnitttheke nicht bedient werden, weil die Verkäuferin sich nicht von ihrem Mobiltelefon lösen konnte. Eine aufmerksame Kassiererin musste herüberkommen und aushelfen. Nachts piepten manchmal nicht abgeschaltete Geräte; an frei zugänglichen Steckdosen wurde Strom nachgetankt. Man muss allerdings zugeben, dass ein Mobiltelefon gerade für einen Pilger, der auf dem Marsch in Not gerät, sehr wichtig sein kann.
Die Spanier waren sehr kälteempfindlich. Sie trugen aber oft auch nur hauchdünne T-Hemden und kurze Hosen und hatten zum Teil nur Leinenschlafsäcke dabei. Ich hatte immer nur ein langärmeliges Hemd (Sonnenschutz) auf dem Oberkörper; dazu eine lange Hose, die mir bei zugewachsenen Pfaden sehr zustatten kam (Stechginster!) und auch verhinderte, dass Steinchen in die Wanderstiefel gerieten. Auch unsere Schlafsäcke waren ziemlich dick und schwer. Da die Spanier im Refugio darauf bestanden, sämtliche Fenster im Schlafsaal zu schließen, wurde es nachts anfangs sehr heiß, und die Luft war morgens zum Schneiden. Ich habe deshalb schlimme Nächte gehabt; bin ich es doch gewohnt, in möglichst kaltem Schlafzimmer zu schlafen. Daher lag ich (und anderen ging es genauso) fast immer, nur mit meiner Unterhose bekleidet, nachts auf dem Schlafsack. Nur wenn es morgens manchmal abkühlte, kroch ich doch noch hinein. Zwei Mal haben wir in Zelten geschlafen (Villafranca Montes de Oca, Molinaseca), und das war herrlich. In kleineren Zimmern konnte man auch verabreden, ein Fenster geöffnet zu lassen; zuweilen habe ich "vergessen", die Tür zu schließen.
Fazit zum Wetter: In jeder Jahreszeit ist mit Regen zu rechnen. Pullover, Regenmantel und wärmender Schlafsack sind notwendig.
Unsere großen Hüte waren oft hinderlich. Zumindest zum Einkaufen usw. hätte ich mir eine einfache Sonnenschutzkappe gewünscht. Anderereits schützten die Hüte das ganze Gesicht, und bei Regen wären sie unentbehrlich gewesen.
Was uns schmerzhaft fehlte, war eine kleine Taschenlampe. Wer hätte gedacht, dass sich das Refugioleben i.w. in der Dunkelheit abspielt (weil man nie Licht machen darf, um Schläfer nicht zu stören)? Einige Male habe ich so die Lichtschalter auf der Toilette nicht gefunden und wäre fast einige Stufen hinuntergefallen. Es war ein Segen, wenn Straßenlaternen durch die Fenster wenigstens für etwas Licht sorgten oder wenn es eine Notbeleuchtung gab.
Zum Thema "Taschenlampen" kann man köstliche Anekdoten erzählen: Die morgendlichen Hektiker, die im Dunkeln packten, benutzten kleine Punkttaschenlampen, um sich wenigstens etwas zu helfen. Wie packt man aber mit einer Hand, während die andere die Taschenlampe hält? Nun, man hatte Taschenlampen, die sich aufhängen ließen, oder, noch besser, solche, die an einem Kopfring getragen wurden, wie bei den Bergleuten am Helm! :-) Wenn man dann anschließend, noch im Dunkeln, losrannte, musste einer voran und mit der Taschenlampe die gelben Pfeile suchen, die den Jakobsweg markieren. (Einmal kamen zwei kleinlaut zurück, weil sie den Weg trotzdem nicht gefunden hatten.) Verrückt!
Unsere Teleskop-Wanderstöcke erwiesen sich als Trumpf! Sobald es mal in dem einen oder anderen Knie- oder Hüftgelenk zwickte, habe ich den Stock an die betreffende Seite gewechselt. Minuten später waren die Beschwerden verschwunden. Wir haben keine Kniebandagen, die man bei anderen Wanderern, überwiegend solchen ohne Wanderstab, häufig sah, gebraucht. Zudem waren die Stöcke immer das "dritte Bein", in Felsgeröll und bei einer Flussdurchquerung unverzichtbar. Ein einziges Mal bin ich trotzdem gestürzt, als gleichzeitig Stock und ein Bein ausglitten. Die Teleskopstöcke ließen sich mit einem Handgriff beim Runtersteigen verlängern; mit ihnen fühlte ich dann vor; beim Raufsteigen wurden sie verkürzt. Einfach praktisch!
Wir hatten ja dicke Bergschuhe mit, die die Knöchel bedeckten. Andere, die den Jakobsweg nur ein Stück gingen, glaubten, mit festen Sandalen, die die Ferse frei ließen, auskommen zu können. Ergebnis: der hintere Riemen rieb den Fuß oberhalb der Ferse bis aufs Fleisch durch. Wir haben entsetzliche Fälle gesehen. Unsere Schuhe gaben auch festen Halt, was bei den überwiegenden Schotter- und Geröllpisten einfach notwendig war. Wie oft bin ich (aus Müdigkeit) über einen Stein gestolpert, einige Male umgeknickt. Die robusten Schuhe fingen alles ab.
Mit den Isomatten ist es sicher so wie mit dem Regenschutz: Man braucht sie nur dann dringend, wenn man sie nicht mitgenommen hat. Wir haben unsere Isomatten tatsächlich nur ein Mal (in Larrasoaña) zum Schlafen gebraucht; sie waren aber mehrfach sehr nützlich, um sich in Parks, am Wegesrand oder am Strand auszuruhen.
Nachtrag:
Durch die tatkräftige Mithilfe meiner Apotheke zu Hause ist das
"Wunderpflaster" inzwischen identifiziert. Es ist eigentlich kein
Pflaster, sondern eine "elastische Klebebinde", die Fuß oder
Bein besseren Halt geben soll. Sie hieß bis 2007 "Elastoplast",
jetzt "Optiplaste-C".
2,50 m (die sich zu 4,00 m dehnen lassen) kosteten im Jahre 2013 14,95 €, nicht
eben wenig.
In Spanien habe ich sie früher in Blaugrün statt in Braun gesehen, aber in den
späteren Jahren habe ich in spanischen Apotheken vergebens danach gefragt.
Es gab nur eine merkwürdige, feste Differenz von etwa 2 Kilometern im Vergleich zum Outdoor-Handbuch, die am Flughafen vor Labacolla wohl ihre Erklärung fand: Ab dort standen nämlich neuere Steine mit Entfernungsangaben auf den Meter genau - und mit einem Sprung von rund 2 km!
Hinter Santiago wurde es vollends lustig: Regelmäßig sprangen die Angaben (wieder mit Meterangaben) um rund 2 km hin und her. Das Rätsel lösten wir erst zwei Tage später an einer Verzweigung: Es waren abwechselnd die Entfernungen zum Leuchtturm nach Finsterre und nach Muxía, dem Wallfahrtsort "unserer lieben Frau vom Schiff" wiedergegeben worden. Wir hatten uns vorher den Zusatz "Muxía" nicht erklären können.
Unser Outdoor-Handbuch "Kasper, Michael: Spanien: Jakobsweg" (1999), im Folgenden kurz "Outdoor-Handbuch" genannt, war trotz der guten Wegauszeichnung sehr nützlich. Es lieferte z.B. zusammenfassende Beschreibungen von Wegalternativen, was eine gute Vorabplanung ermöglichte; dann verstand man, an der Abzweigung angekommen, auch die aufgemalten Hinweise besser.
Nachtrag 2007: Die Handbücher der "Outdoor-Serie" aus dem Conrad-Stein-Verlag sind weiter hin zu empfehlen. (Auf der Startseite den Menüpunkt "Programm" anklicken und dann "Süd-, West- und Mitteleuropa" auswählen.) Von dem o.e. Handbuch ist die 10. Auflage angekündigt.
Als immer aktuelles Nachschlagewerk für Unterkünfte aller Art (einschließlich Pilgerberhergen) auf dem Camino Francés sowie den Camino Aragonés (die Somport-Variante) empfehle ich nachdrücklich den Führer von Jochen Schmidtke. In diesem werden u.a. auch meine Hinweise laufend verarbeitet.
Auch die Landkartenkopien waren insgesamt sehr nützlich. Die Kopien stammten von den Karten Michelin 441 mit Galicien, Asturien und León sowie 442 mit dem Baskenland, Navarra und Kastilien. Ihr Maßstab ist 1:400.000, d.h. 1 cm Karte = 4 km Natur.
Als Handbücher hatten wir außer dem oben erwähnten noch folgendes mit: Wegner, Ulrich: "Wandern auf dem Spanischen Jakobsweg", 1999, Verlag DuMont. Es diente mit seinen Karten und einigen Informationen als Ergänzung und Kontrolle, ist aber nur für Orientierungsbedürftige (wie mich) von unverzichtbarem Wert. (Was bei ihm stört, ist, dass der Jakobsweg auf den Karten von rechts nach links verläuft, auf den Abbildungen der Höhenprofile aber von links nach rechts.) Die Karten mit allen Erhebungen und Wasserläufen helfen sehr bei der Orientierung, wie weit man ist. Leider ist manche neue Autobahn nicht eingezeichnet, von Santiago nur ein Kern dargestellt: die Bebauungsgrenze hat längst San Lazaro im Osten erreicht. Das verwirrt. Unsere Outdoor-Ausgabe war die von 1999, damit Sommer 2000 die neuste und trotzdem in sehr vielen Angaben schon wieder überholt; einige neue Refugios waren gar nicht vermerkt. Was aber äußerst hilfreich war, waren die Angaben über die Bettenzahl der Refugios, ob es Einkaufsmöglichkeiten am Ort gab oder wenigstens eine Bar. Bars schießen immer noch wie Pilze aus dem Boden; die Angaben dazu müssten dringend ergänzt werden. Leider bleibt das Risiko, dass die Bar geschlossen ist, weil sich die Spanier nicht gern auf feste Öffnungszeiten festlegen. Die Refugios in Galicien haben neuerdings (fast) einheitlich ab 13 Uhr geöffnet und schließen um 23 Uhr. (Nur Finisterre scherte aus.) Die Landkartenkopien halfen bei der Planung der Etappen; hinter Santiago waren sie das einzige Kartenmaterial, da die Strecke bis zum Kap nicht in den Handbüchern abgebildet war. Sehr viele Pilger hatten das bekannte Handbuch von Millán Bravo Lozano (mit Ringheftung) dabei; vor dessen Karten ist zu warnen, da sie nicht maßstabsgerecht sind und zu Fehlplanungen verleiten.
Alle Pilger waren untereinander trotz mancher Konflikte im Hintergrund im allgemeinen sehr friedlich und hilfsbereit. Ich habe auch nie beobachtet, dass Frauen "angemacht" wurden. Abgesehen von dem Wettrennen um die Betten konnte man sehr zufrieden sein. Es wurde nur von einem Fall berichtet, dass sich zwei Pilger um das letzte Bett in Puente la Reina geprügelt hätten.
Wie ich schon unter "Nordspanien: Land und Leute" berichtet habe, haben Pilger auch nichts von Nichtpilgern zu befürchten, mit der genannten Ausnahme auf der Strecke hinter Santiago. Etwas anders sieht es bei Diebstählen aus: In Burgos wurde davor gewarnt, etwas unter den Fenstern liegen zu lassen, und in Santiago kamen im Refugio (das ohne Aufsicht allen offen stand) massive Diebstähle vor. Sonst konnte man seine Sachen (natürlich nicht seine Wertsachen) überall unbesorgt rumstehen lassen, auch auf der Straße vor dem Refugio. Pilger bestehlen einander also wohl nicht. Im Gegenteil: ich verlor 50 DM auf dem Marsch und erhielt sie Minuten später von einer nachfolgenden französischen Pilgergruppe zurück. Eine Pilgerin, die ihren Fotoapparat auf dem Platz vor einem Refugio hatte liegen lassen, brauchte später nur die Hospitalera zu fragen: bei der war er schon abgegeben worden.
Eine ganz andere Gefahr sind zuweilen die Stockbetten. Wenn die oberen Betten kein seitliches Gitter haben, kann man rausfallen. Extrem: in Viana gab es 3-Stock-Betten, mit glatten Matratzen und ohne Gitter (siehe das Kapitel "Von Pamplona nach Burgos"). Man sollte es auf jeden Fall ablehnen, auf dem obersten Bett zu schlafen. Statt dessen einfach die Matratze nehmen und irgendwo auf den Boden legen. In Viana kam es nämlich, wenige Tage nach unserem Aufenthalt dort, zu einem hässlichen Unfall: Augenzeugen bestätigten uns, dass dort eine Frau samt Schlafsack vom obersten Bett herabgefallen war und in ihrem Blute lag. Es ist nicht klar, ob sie überlebt hat. Dreistockbetten sollten grundsätzlich nicht zulässig sein!
Ähnliches muss man zu manchen Duschanlagen sagen, die der reinste Mordanschlag sind: Rutschige Kacheln, in Ordnung, das kennt man, aber auch noch extrem abschüssig zur Duschwanne hin (damit das Spritzwasser besser zurückfließt)?! Wenn man wie ich ohne Brille keine Perspektivsicht mehr hat, sieht man weder Stufen noch Gefälle, die gleichgekachelt sind wie ihre Umgebung und nicht gekennzeichnet. Trotz aller Vorsicht bin ich so in den Duschanlagen des Refugios auf dem Cebreiropass in Rutschen gekommen und konnte mich nur noch dadurch vor einem Sturz bewahren, indem ich die Wasserhähne umklammerte. Eine ähnliche Gefahr gibt es häufig an Spaniens Straßen: Stufen und senkrechte Abstürze, bis zu zwei Metern hoch, an Straßenrändern und Bürgersteigen, ohne jegliches Gitter oder Absperrung. Wer da nicht darauf achtet, wohin er seine Füße setzt, kann böse abstürzen.
Eine andere, viel beschriebene Gefahr sind Hunde. Wir haben zwar keine wirklich gefährliche Situation erlebt, aber oft Angst geschwitzt, wenn nur einen Meter von uns entfernt, durch ein leicht überspringbares Gitter von uns getrennt, ein Dobermann oder ein Schäferhund tobte. Wie leicht konnte so ein Tier einmal aus Versehen frei sein und Pilger anfallen! Die Hunde, die auf dem Weg lagen, waren durchweg zu faul, um uns anzubellen. Bis Santiago waren sie offensichtlich die unentwegt vorbeiziehenden Pilger gewohnt. Hinter Santiago sah es wieder einmal anders aus. Hier musste ich schon mal mit dem Stock drohen oder Kampfbereitschaft signalisieren. Bei größeren Hunden sollte man auch das unterlassen, um sie nicht noch mehr zu reizen: Ohne sie anzusehen, stur geradeausschauen und mit festem Schritt weitergehen, evtl. sich dabei im Plauderton unterhalten. Kamen Hirtenhunde in Sicht, haben wir immer den Schäfer schon von weitem laut gegrüßt. Er grüßte dann natürlich mit normaler Stimme zurück, was seinen Hunden signaliserte, dass wir nicht potenzielle Angreifer waren. Das hat immer gut funktioniert. Das einzige Mal, als uns zwei Hirtenhunde graulend und knurrend den Weg verstellten, waren wir gerade drei Zweiergruppen hintereinander, und vor dieser Übermacht wichen auch die Hunde. Der Wanderstab hilft wohl eher symbolisch, als Signal für den Hund, dass er einen "Hirten" vor sich hat, und einem selbst als moralische Stütze, obwohl man sich vom Verstand her sagt, dass so ein Stock in der Hand eines Ungeübten keine wirksame Waffe ist.
Fazit zu der Gefahr, die von Hunden ausgeht: Oft muss man unangenehme Momente durchstehen, aber meistens passiert doch nichts. 2003 hörte ich allerdings von zwei Fällen, in denen Pilger gebissen wurden, in einem davon ernsthaft. Die Gefahr besteht also durchaus. Ich empfehle eine Pfefferspritze zur Abwehr (siehe meinen Bericht von 2003).
Unterwegs wurden wir nur von wenigen Schnellläufern überholt, weil wir selbst dazu gehörten. Ansonsten waren wir Kurzläufer, denn die meisten unserer Etappen waren nicht länger als 25 km, während Langläufer am Tag bis zu 40 km und mehr liefen. (Einige hatten beide Füße bis zur halben Unterschenkelhöhe verbunden.) Sie trafen dann als Spätläufer mit anderen, die den ganzen Tag rumgebummelt hatten, erst abends ab 18 Uhr im nächstbesten Refugio ein, das in der Nähe lag und landeten dann regelmäßig auf dem Fußboden. Die Spätläufer waren oft die Verzweiflung der Hospitaleros: weiterschicken ging wegen der fortgeschrittenen Zeit nicht mehr, auch wenn das Refugio schon bis zum letzten Matratzenplatz voll war. Daher lagen sie dann im Frühstücks- und im Aufenthaltsraum, in der Küche, in sämtlichen Fluren und unter den Treppen, mit dem Resultat, dass abends und morgens nichts mehr davon benutzt werden konnte, ja nicht einmal Licht gemacht werden durfte. Es war schon nervig. Manches Refugio, das um 16 Uhr noch eine Oase der Stille und des Platzes war, verwandelte sich bis 22 Uhr in die übliche Sardinenbüchse. Fußpilger sollten eigentlich spätestens um 16 Uhr im Refugio eingetroffen sein; sonst sind ihre Etappen zu lang oder sie haben zu sehr gebummelt.
Harald und ich waren meist zur Öffnungszeit oder kurz danach, d.h. zwischen 12 und 14 Uhr an unserem Zielrefugio. Nach dem Belegen der Betten gingen alle Pilger zum Duschen, danach wird die Wäsche gewaschen (weil sie noch bis zum Abend trocken sein muss). Hat man diese Pflichten erfüllt, ist Siesta angesagt. Ich ruhte (schlafen konnte man in der Regel nicht) meist nur 1 Stunde, Harald länger. Bis 18 Uhr war Zeit für evtl. Besichtigungen, dann wurde eingekauft (für das Frühstück und das "Mittagessen" des kommenden Marschtages). Danach stand eigentlich nur noch das warme Abendessen in einem nahen Restaurant auf dem Plan. Bevor wir ins Bett gingen, holten wir noch die Wäsche rein und bereiteten unsere Frühstücksbeutel vor. Um 22 Uhr sollte Bettruhe sein, aber nicht ausgelastete Pilger lärmten manchmal noch bis 24 Uhr.
Die übermäßige Nutzung führt bei den Refugios natürlich zu einer schnellen und starken Abnutzung. Refugios, die im Outdoor-Handbuch noch als "schön" beschrieben werden, sind inzwischen nur noch als "heruntergekommen" zu bezeichnen. Sehr vieles ist kaputt und wird nicht repariert. In Ribadiso war die Herrenwaschanlage "vorübergehend" wegen Defekt gesperrt; vor zwei Jahren war sie es auch schon. Bei jeder Toilette muss man zuerst ausprobieren, ob sie funktioniert. Fenster und Türen sind verzogen und quietschen bei jeder Bewegung laut (nachts!). An vielen Toilettenkabinen fehlt das Schloss, oder es ist defekt (also pfeifen, solange man auf der Brille sitzt, oder einen Schuh unter der Tür hervorstrecken). Jede zweite Lampe funktioniert nicht usw. Das Chaos wird dadurch vergrößert, dass die Pilger in jeder Dusche unglaubliche Überschwemmungen verursachen (trotz eines zuweilen existierenden Duschvorhangs), die auf die Toiletten und in einem Fall sogar auf den Schlafsaal übergriffen. Mich fragte jemand kurz vor Santiago: "Na, wo möchtest du denn einmal gern Freizeithospitalero sein?" Spontan sagte ich: "Nirgends! Ich würde mich doch über die allgemeine Disziplinslosigkeit und Gleichgültigkeit den Einrichtungen gegenüber tot ärgern."
An dieser Misere ist m.E. nach das System der Refugios selbst mit schuld. Gedacht als Unterschlupf für arme Pilger, sind die Refugios so gut wie kostenlos (manchmal 3 EUR, meistens werden nur Spenden erwartet). Das lockt zum einen alle an, denen es nur um einen billigen Urlaub geht. Zum andern gilt etwas nichts, wenn es nichts kostet, und dann wird es auch nicht aufgepasst. Verstärkt wird dieser unselige Hang dadurch, dass einige Refugios praktisch ohne Aufsicht sind, so dass man nicht einmal mehr das Feigenblatt "Pilgerausweis" braucht, um sich dort einzuquartieren. (Der Stempel liegt irgendwo zur Selbstbedienung.) Das hat zur Folge, dass kein Geld da ist, um Refugios zu reparieren oder zu renovieren, und so geht es steil bergab. Das einstmals schöne Refugio von Cebreiro hat jetzt überall Wasserschäden und wird in absehbarer Zeit nicht mehr bewohnbar sein.
Was wäre zu tun? - Alle Refugios sollten von jedem 6 EUR für eine Übernachtung verlangen. Dann bliebe der größte Teil der Schmarotzer weg, und man hätte Geld in der Kasse. Die privaten Refugios machen das auch so und können offenbar damit wirtschaftlich über die Runden kommen. Wer nicht einmal 6 EUR bezahlen kann, der sollte mir erklären, ob er auch im Übrigen unterwegs von Wasser und Steinen lebt. Ganz ohne Geldmittel geht das Pilgern nun mal nicht. Ferner sollten die Refugios Privatquartiere für diejenigen vermitteln, die auf die Schlafsaalatmosphäre gern verzichten und etwas mehr bezahlen wollen (wurde in León schon gemacht). Auch das würde zu einer Entlastung führen. Endlich ist in jedem Refugio eine straffe Kontrolle notwendig. Dass das nicht stören muss, zeigen die guten Beispiele von Frómista, Mansilla de las Mulas und Palas de Rey. (Ich rufe hier also nicht nach "deutscher" Zucht und Ordnung: die spanischen Hospitaleros in den genannten Orten haben das fröhlich, aber kompetent und konsequent gehandhabt; ich habe mich dort wohlgefühlt.)
Es ist völlig überflüssig, neue Refugios zu bauen. Mit den vorgeschlagenen Änderungen käme mindestens so viel Geld in die Region, und die vorhandenen Refugios könnten saniert werden.
Wir flogen von Düsseldorf aus mit der Air France nach Paris und dann mit einem anderen Flug nach Biarritz. Vor dem Flughafen in Biarritz fuhr der Linienbus (Linie 6) zum Bahnhof nach Bayonne. Im Flughafen gab es einen Informationsschalter, bei dem das Faltblatt mit dem Fahrplan auslag. Trotzdem sollte man beim Fahrer zur Kontrolle zurückfragen, ob er in die gewünschte Richtung fährt, da beide Richtungen von derselben Haltestelle aus in derselben Abfahrtrichtung bedient werden. Die Fahrt zum Bahnhof Bayonne dauerte etwa eine halbe Stunde und kostete 7,50 fr pro Person. Der Bus fährt leider nur stündlich, also zeitlich nicht zu knapp kalkulieren.
In Bayonne lösten wir Karten für den Zug nach Saint-Jean-Pied-de-Port. Den Automaten bekamen wir nicht in den Griff, dafür konnten wir zu wenig Französisch, kannten die Tarife nicht, die gefragt wurden, und hatten zu wenige Münzen. Es gab aber auch einen Schalter. Fahrpreis: 47 fr (eine Richtung, pro Person).
Der Zug fährt nachmittags gegen 15 Uhr und dann noch abends
zweimal (sonntags seltener). Fahrzeit 1 Stunde. Im Internet ist
der Fahrplan der französischen Bahn
(einfach anklicken).
Man sollte nicht erst spät abends in St.-Jean ankommen, dann hat
man kaum eine Chance, noch eine Unterkunft zu bekommen.
Die Zugfahrt verlief durch eine schöne Gegend. Wir versuchten,
Pilger unter den Fahrgästen zu identifizieren. Bei einem waren
wir uns sicher: der hatte so einen Flackerblick... Treffer, stellte sich
später heraus. :-)
Kapitel 1: Von Saint-Jean-Pied-de-Port nach Pamplona (3 Etappen, 68 km)
29.07.2000, Samstag: St.-Jean-Pied-de-Port (0 km)
Um 16 Uhr steigen wir in Saint-Jean-Pied-de-Port aus dem Zug,
und schon sind die Tocktocks
(tock! tock! machen die Wanderstäbe)
zum ersten Mal auf dem Jakobsweg (oder Camino) unterwegs.
Mit uns sind ein Dutzend weiterer Pilger ausgestiegen.
An der Stadtmauer entlang führt mich mein Gedächtnis
in Richtung Campingplatz, wo wir 1998 untergekommen waren.
O Nostalgie! Kaum kommt er in Sicht, fällt mein Blick
auf ein Schild: Zur Römerbrücke! Die hatten wir sogar
1998 nicht gesehen. Wegbeschreibung:
Zum Campingplatz und vor diesem ca. 300 m um eine Mauer
(Tennisplatz) herum nach rechts; dann erreicht man den Fluss und
hat bald die Brücke links vor sich. Man kann geradeaus weitergehen.
Links sieht man die Pyrenäen, und man kommt an die Kreuzung,
wo man andernstags beim Aufbruch loslaufen wird (Schilder). Rechts
durch die Stadtmauer geht's dann in die Innenstadt zurück. -
Einkauf und ein letztes Bier (sehr teuer) vor dem Schlafengehen.
Nachts muss ich einmal auf die Etagentoilette. Beim Tasten im dunklen
Korridor, wo ich den Lichtschalter nicht finde, merke ich, dass wir
doch eine Taschenlampe hätten mitnehmen sollen.
Vor dem Refugio sitzen fast 50 Pilger und lauern auf Einlass. Eine Frau mit roten Haaren kommt auf uns zu: "Na, ihr müsst die Fischers sein. Nicht zu übersehen." Es ist Heidi. Auf unsere Rückfrage: Sicher habe sie Nachricht im Refugio hinterlassen. Es stellt sich heraus: es gibt zwei Refugios in Saint-Jean, in derselben Straße! Anscheinend ist man sich nicht grün, denn davon hat man uns kein Sterbenswort gesagt. Im Outdoor-Handbuch stand das zweite auch nicht. - Heidi hat sich den Aufstieg geteilt, weil sie Zeit hatte, und hat in Hunto übernachtet (mit tollem Abendessen und Frühstück). Gute Idee!
16 Uhr: Das Refugio wird aufgemacht. Alles stürmt hinein. Nach einigen Turbulenzen stellt sich heraus, dass für alle Betten da sind. Na also. Das Pilgermenü muss man in einem der zwei Restaurants vorbestellen. Wir tun uns mit einem niederländischen Paar, das mit einem Tandem unterwegs ist, und Heidi zusammen. Dann um 20 Uhr in die Pilgermesse. Proppenvoll, an die 130 Pilger. Mittendrin wankt schweißüberströmt noch einer herein: es ist Manfred (Name geändert), den wir später kennen lernen. Zum Abendessen gibt es Makkaroni und Forelle (wie immer, wie ich aus Berichten weiß).
Im Halbdunkel erreiche ich den Schlafsaal. Ein Refugiohelfer kommt mir entgegen. "Gute Nacht, Pater!" Galt das mir? Ich stammele verwirrt einen Dank. Mit meinem langen Vollbart und dem umgehängten Holzkreuz (das Kinder unserer Heimatpfarre gebastelt haben) werde ich noch oft für einen Priester gehalten, etwa für einen Theologieprofessor mit Elevem = Harald :-) Wir haben manches Mal unseren Spaß damit gehabt. - Der Nachtschlaf ist leidlich. Gottseilob schnarchen auch andere, nicht nur ich.
Als Statistiker konnte ich feststellen, dass etwa jeder 4. Pilger schnarcht, Männer eher als Frauen, je älter, desto schnarcher. Deshalb sollte man unbedingt Ohrenstöpsel mit haben! Heidi hat sich auf der Pilgertour daran gewöhnt; danach gibt es nur noch das Problem, überhaupt wach zu werden.
Na, es war das erste und vorerst das letzte Mal, dass wir so sorglos mit der Zeit am Vormittag umgingen. Der steile und steinige Abstieg nach Zubiri raubt die letzten Kräfte. Ich will eigentlich nach Larrasoaña weiter, kann in der Sonnenhitze aber nicht mehr gut. Also über die Brücke ins Dorf. Geschäfte geschlossen (Siesta), Mist! Ich brauche Geld, und hier soll ein Automat sein. Etwas weiter an der Hauptstraße rechts in Richtung Refugio finde ich ihn, aber meine Bankkarten machen Schwierigkeiten. Der Schweiß läuft mir in Strömen herunter. Erst mit der 3. Karte bekomme ich Geld. Etwas weiter ist das Refugio. Ohne Aufsicht, mit Hinz und Kunz schon gestopft voll. Na, ich wollte ja sowieso weiter.
Harald meint auch, noch 5 km zu schaffen. Also zurück über die Brücke und nach rechts weiter. - Es wurden fast die schlimmsten Kilometer des ganzen Camino. Nach 1 km treffen wir Manfred. Er ist fertig. Ein anderer Pilger ebenso, setzt nur noch langsam Fuß vor Fuß. Wir nehmen Manfred mit, sprechen ihm Mut zu, rasten alle 500 m. Jedes Mal holt uns der andere Pilger wieder ein. Zu viert nehmen wir einmal einen kräftigen Schluck aus Manfreds Weinschlauch. Endlich in Larrasoaña. Wir haben ganze 3 Kilometer pro Stunde an diesem Tag geschafft.
Ich habe ein Bild für den berühmten Bürgermeister mitgebracht, auf dem er unsere Gruppe vor zwei Jahren begrüßt. Ihro Gnaden ist nicht bei Laune: "Mehr Pilger als ..." schimpft er, und Bilder habe er genug. Dann nicht, Euer Ehren. Um halb acht könnten wir in der Kirche auf den Fußboden. Zu gütig. Ich weiß noch von einer Bar, nicht weit weg, links am Ortsausgang. Dort kaufen wir ein. Wir fragen auch nach Unterkunft. Ob noch Betten frei sind? Die alte Frau muss lange überlegen. Eigentlich nicht. Oder vielleicht doch, genauer gesagt aber nur zwei für uns drei, pro Kopf 3.000 P. Danke sehr, berauben können wir uns selbst. Also doch in die Kirche. - Am Ende war es ganz lustig, dort auf der Orgelbühne zu schlafen. Wohl dem, der eine Isomatte mit hat!
Manfred hat schlimme Blasen. Bei Harald und mir geht es. Der letzte Tag gibt uns zu denken. Die Schnellläufer hatten eindeutig gewonnen. Wir treffen Bernd (Name geändert), der erzählt, dass er schon um 11.30 Uhr in Larrasoaña war und das vorletzte Bett bekam. Also, da war was faul! Wo sollen denn so viele andere Fußpilger noch schneller hergekommen sein? Später hören wir das Gerücht, dass man Beziehungen haben müsse, um in Larrasoaña unterzukommen; d.h. es gibt unter der Hand Reservierungen. Nun, bewiesen ist nichts.
Aber wir machen uns Gedanken: die geplante allmittägliche Siesta im Grünen und das legere Tempo scheinen uns jede Chance auf Betten zu nehmen. Also geht das so nicht! O je, adieu, du beschauliches Pilgern!
Zunächst aber nach Pamplona. Manfred hat sich uns angeschlossen. Er humpelt furchtbar, muss alle 2 km eine Pause machen. Harald und ich schlaffen auch ab, sei es wegen der ungewohnt vielen Pausen, sei es, weil wir auch noch von den beiden vorigen Etappen fertig sind. Und der Weg nach Pamplona ist auch kein Zuckerlecken: immer die Hänge auf und ab. Keine einzige Bar auf dem ganzen Weg; eine Raststelle an der Fernstraße kann sie nicht ersetzen (trotz Wasser und Klo). Dann geht es eine von den Wegeplanern geschickt ausgewählte Route in die Stadt: Man sieht die Industrievorstädte nicht, es geht Parks und kleine Alleen entlang, bis man über eine alte Brücke schon den Stadtkern erreicht hat.
Tipp: Seit April 2005 liegt direkt hinter der Brücke 300 links am Fluss die Pilgerherberge "Casa Paderborn" (24 Betten). Sehr zu empfehlen, wie viele Pilger berichten. Sie wird von den Jakobusfreunden von Paderborn geleitet. Von April bis Oktober geöffnet. Bilder und Beschreibung hier im Netz.
Das Refugio (inzwischen endgültig geschlossen) ist in der Innenstadt ... und ein Schild: "Geschlossen, nächstes Refugio 1,5 km." Es waren "lange" Kilometer, mindestens 3 normale ;-) Von der Innenstadt sehen wir beim Durchqueren fast nichts, aber trotzdem will keiner von uns nachher nochmal so weit zurück. Das andere Refugio (nur im Juli und August) ist eine riesige Turnhalle, mit etwa 120 Betten. Sehr stickig, aber viel Platz, sehr gute Duschen. Hier wird sich erst einmal gepflegt und erholt. Leider lernen wir so von Pamplona nur ein Vorstadtviertel kennen. So werden wir es auch weiterhin auf dem Jakobsweg erfahren: die Erschöpfung steht im Vordergrund und lässt einen gegen alles abstumpfen: die tollsten Kunstschätze, die berühmtesten historischen Stätten, nichts dringt mehr durch die Erschöpfung. Aber auch manches Negative nicht. In den übervollen Refugios ist das sogar hilfreich.
Beim Abendessen bringen wir Manfred schonend bei, dass wir am nächsten Tag lieber allein weiterziehen möchten. Er hat dafür Verständnis. Pilger tun sich selten zusammen. Jeder hat seinen eigenen Rhythmus und möchte sich nicht dauernd mit anderen abstimmen müssen. Auch ist jede Gruppe nur so schnell wie ihr langsamstes Mitglied. Ferner wollen die echten Pilger Ruhe zum Nachdenken haben, Geplauder stört da nur. So haben wir uns zwar gefreut, immer wieder bekannte Pilgerfreunde wie Heidi wiederzutreffen, aber das wurde dem Zufall überlassen, und gelaufen wurde immer getrennt.
Manfred hatte erzählt, dass bei seiner ersten Caminotour hier alle gekniffen hätten, noch den Abstecher zur berühmten Kirche Eunate zu machen. Das haben wir aber doch vor, sind ja nur 2 km mehr. Wo ist die Abzweigung? Zwei Spanier wissen es auch nicht, haben sogar noch nicht von Eunate gehört. "Sehr berühmt", sage ich ein paar Mal. Sie überlegen, wollen dann doch auch dahin. Etwas weiter im nächsten Dorf (Muruzábal) steht ein riesiger Hinweis auf einer Hauswand, gar nicht zu übersehen. In glühender Sonne geht es zur Eunate. Die beiden Spanier kommen uns im Eingang schon wieder entgegen und bedanken sich herzlich, dass wir sie auf diese Sehenswürdigkeit aufmerksam gemacht haben.
Die Kirche ist wirklich wunderbar. Wegen der Touristen wage ich drinnen nicht zu singen. (Das ging mir leider oft so.) Dann laufen wir stur den Pfeilen nach, die vom Somportpass kommen, und werden deshalb mit einem großen Umweg nach Puente la Reina, unserem Ziel geführt. Andere sind einfach der Nase nach direkt am Hang von Eunate aus dahin gelaufen. Da waren wir wohl zu preußisch.
Das Refugio von Puente la Reina ist klein und dreckig, mit 3-Stock-Betten. Sowieso kein Platz, obwohl sich hier eine italienische Gruppe mit Wohnwagen eingenistet hat! Der Hospitalero sagt mir nur kurz: "Es gibt noch zwei Refugios hier. Eins im Hotel zurück, 1.200 Peseten, eins voraus 900 Peseten." Da ich das Hotel schon gesehen habe, gehe ich lieber 500 m zurück an den Ortseingang. Im Hotel heißt es: "Ein Doppelzimmer? Kein Problem. Macht 9.000 Peseten." Ich halte mich am Tresen fest. "Oder wollen Sie ins Refugio im Keller?" fragt die junge Dame weiter, "Das kostet 1.200 Peseten." Ich nicke so heftig und schnell wie Obelix. Im Keller sind saubere Stockbetten und marmorgeflieste "servicios" (Duschen und Toiletten). Wau! Und viel Platz. Später werden noch viele Betten belegt, aber niemand landet auf dem Boden.
Fazit für Puente la Reina: Sofort im Hotel Jakue am Ortsrand bleiben. Das offizielle Refugio im Ortskern kann man abhaken. Einziger Nachteil: Man läuft doch einige Male die 500 m zur Innenstadt hin und her. Das andere Refugio, bei den Pilgern nur Hühnerstall genannt, hat angeblich wirklich vorher der Hühnerzucht gedient. Es liegt von der Innenstadt aus gesehen hinter der berühmten Brücke, etwas den Hang hinauf. Innen soll es einfach, aber gut sein. Heidi sagte später, sie sei zufrieden gewesen.
Villamayor de Monjardín war einer der wenigen Orte am Jakobsweg, wo noch heute der Pilgergeist zu spüren ist. Eine niederländische religiöse Gruppe hat zwei Häuser renoviert und daraus das private Refugio gemacht. Es war noch nicht in unserem Handbuch verzeichnet, aber im Refugio von Puente la Reina hatte ein Reklameanschlag auf diese neue Unterkunftsmöglichkeit hingewiesen. Das ist überhaupt ein Tipp: In allen Refugios sorgfältig die Anschläge am schwarzen Brett lesen. Man erfährt dort manches Nützliche, das nicht im Handbuch steht.
Es gibt 2- bis 4-Betten-Zimmer, aber in jedem Haus nur eine Toilette, von denen die eine sich noch denselben Raum mit der einzigen Dusche des Refugios teilt. Also erst einmal zum Duschen Schlange stehen. Ein Radfahrer (schon diese Glitzerwäsche macht mich aggressiv) nervt mich. Ob wir evtl. unser Zimmer, wo wir mit der dunklen Französin und ihrem Begleiter untergekommen sind, zugunsten ihrer vierköpfigen Gruppe räumen würden? (Die anderen beiden hat er schon verscheucht.) Ich bin sehr ungnädig, will jedenfalls meinen Platz in der Warteschlange nicht aufgeben. Frisch geduscht, ziehen wir dann doch ins Nachbarhaus um. Zum Lohn hat das neue Zimmer eine Terrasse mit wunderschöner Aussicht auf das Land, speziell auf die Burgruine oberhalb des Dorfes. Wir teilen unser Zimmer mit den "Jungs mit der Fahne". Bald weht unsere Wäsche auf der Terrasse.
Vor dem Haus sitzt ein alter Mann mit hagerem, unrasiertem Asketengesicht. Ab und zu stößt er Urlaute hervor und stammelt etwas, telefoniert oder diktiert. Ich verstehe ein paar deutsche Satzfetzen. Schon bei der Ankunft trafen wir einen Andalusier. Alt, dunkelbraun gebrannt, mit nur noch wenigen Zähnen, einen ausgesprochen lieben Hund dabei. Er kommt aus Sevilla, war schon in Santiago (wir staunen) und will weiter nach Rom und von da nach Jerusalem... Er ist von einem Landstreicher äußerlich nicht zu unterscheiden. Aber sowohl er wie auch der Asket sind die Freundlichkeit selbst. O ihr Brüder der Landstraße! Ihr seid mir lieber als die Radsportler.
Das Refugio bietet gegen einen mäßigen Preis Abendessen und Frühstück an. (Das sollte man immer mitnehmen. Man spart Zeit und Lauferei, und teurer als in den Gaststätten ist es auf keinen Fall.) Abends sitzen wir also gemeinsam beim Abendessen, endlich eine Pilgeratmosphäre und natürlich der arme Schlucker aus Sevilla zwischen uns, wie es sich gehört. Und wer ist noch aufgetaucht? Manfred mit seinen wunden Füßen. Er hat die Etappe aber mit dem Bus gemacht. Morgen will er zum Arzt. Wir haben uns an diesem Abend von ihm verabschiedet.
Im Gegenzug werden die nächsten 24 Stunden zu den für mich schlimmsten vom ganzen Camino. Es beginnt wieder mit Hybris: Wir wollen der Kolonne, die wir schon in Estella hinter uns gelassen haben, davonlaufen, um endlich weniger Bettenkonkurrenz zu haben. Der Weg ist gut und eben; wir spulen die Kilometer in bester Laune herunter, lassen die Refugios von Los Arcos und Torres del Rio unbeachtet. Viana ist das Ziel, mit einem großen Refugio, da kann gar nichts passieren.
Viana wird in der üblichen Sonnenhitze, etwas humpelnd erreicht. Die Füße meutern wegen der langen Etappen. Das Refugio ist eine einzige Katastrophe, um 16 Uhr schon gesteckt voll. Eine kühle städtische Angestellte zeigt uns einen Schlafraum, dort könnten wir ganz oben auf den 3-Stock-Betten schlafen. Ich bin entsetzt. Es ist auch keinerlei Abstellplatz auf dem Fußboden mehr da. Das Gepäck von drei Leuten passt eben nicht auf eine einzige Bettlänge. Zu allem Überfluss liegt auch noch ein schlafendes Mädchen davor. (Sie hatte auch Angst, ganz oben zu schlafen, merke ich später.) Ihr Vater sieht, dass ich sauer und niedergeschlagen bin. Er räumt Gepäck an die Seite und zeigt auf das freie Bett über sich. Ich beziehe es zweifelnd. Harald schräg gegenüber ebenso.
Ich kann nachts nicht raus, ohne meine Unterleute zu wecken, denn ich muss wie ein Affe ohne Leiter an den Fußenden rauf- und runterturnen. Die Toiletten nebenan sind defekt. Abends wird alles mit Langläufern zugepflastert. Dabei rührt die Enge daher, dass sie jeden genommen haben, ob Radfahrer oder Tourist, darunter sicher viele, die nur an diesem Wochenende unterwegs sind. Die Stadt braucht wohl Einnahmen. Wie das einige Tage später endete, ist unter den Allgemeinen Informationen, Abschnitt "Hunde und andere Gefahren", nachzulesen.
Ich sitze in dem engen Korridor vor dem Schlafsaal auf dem Boden und verarzte meine Füße. Diese haben üble Blasen. Pausenlos steigt jemand über mich hinweg. Später humpele ich über das Kopfsteinpflaster und versuche, ein Privatquartier zu bekommen. Am Touristenbüro ein Schild: "Bin leider wegen einer Führung unterwegs. Bitte, die Unannehmlichkeit zu entschuldigen." Ein Polizist verweist mich an ein Restaurant. Angeblich alles belegt, und auch kein Bett mehr von hier bis Logroño zu haben. Was hilft's, dass ich das nicht glaube! - Die Nacht wird schlimm. -
Später haben wir uns gesagt: Wir hätten einfach die Matratze aus der dritten Lage holen und irgendwo auf den Boden legen sollen, wie andere das auch machten. Gegen 16 Uhr war ja noch genug Platz auf dem Fußboden. Es war auch das letzte Mal, dass ich ohne Widerspruch so mit mir umspringen ließ. Viana, du siehst mich nie wieder!
Als wir aufbrechen, habe ich Tränen des Gedemütigtseins in den Augen. Ich komme mir wie ein Ausgestoßener vor: nirgends Platz. Ich nehme Haralds Hand. Ein paar Minuten später werde ich ruhiger, mit dem tock! tock! der Wanderstäbe kommt auch der Widerstandsgeist zurück. Verdammt nochmal, das lassen wir uns nicht noch einmal bieten.
Vor Logroño muntert uns endgültig Doña Felisa auf (siehe "Allgemeine Informationen", Abschnitt "Nordspanien: Land und Leute"). Dann laufen wir um die Wette mit zwei spanischen Paaren, die wohl auf Wochenendtour sind; tatsächlich haben wir sie danach nicht wiedergesehen. Es gibt sogar einige Tropfen Regen, der aber wenige Minuten später wieder aufhört. Die anderen sind uns weggelaufen, waren wohl frischer.
Wir wollen jetzt die großen Städte und Refugios vermeiden und statt dessen immer "eins weiter" gehen: Wenn also eine große Stadt in etwa der Entfernung einer Tagesetappe liegt (und deshalb wahrscheinlich das Ziel vieler Pilger ist), wollen wir genau das nächste kleine Refugio dahinter ansteuern. Bei Villamayor war das doch prima hingekommen. Man merkt: aus dem Pilgern war inzwischen ein Taktieren und Rennen um ein sicheres Bett geworden. Noch so eine Pleite wie in Viana hielt ich jedenfalls nicht aus. Nach der neuen Taktik ging es also über Logroño hinaus nach Navarrete.
Vor dem Refugio in Navarrete stand (13 Uhr) schon ein Reihe Rucksäcke. Wir landeten auf Platz 18 und 19. In dieser Reihenfolge stellten sich die Pilger später beim Öffnen der Herberge an, konnten vorher aber schon einkaufen oder sich in der benachbarten Bar erfrischen. Eine schöne Regelung, die weit verbreitet war und auch eingehalten wurde.
Zu 15 Uhr steht einer der Männer in der Bar auf, geht zum Refugio rüber und schließt auf: Hatte also der Hospitalero, dieser Schlaumeier, die ganze Zeit unter uns gesessen und sich nicht zu erkennen gegeben. Es war halt noch seine Ruhezeit, das musste man verstehen. (Auch konnte er seine Pappenheimer schon mal unauffällig mustern.) Also bekamen wir Bett 18 und 19. Es stellte sich heraus, dass wir mit unserer Raserei eine Kolonne, die einen Tag eher in Pamplona aufgebrochen war, eingeholt hatten. Das war ja sehr sinnvoll.
Der Preis waren immer schlimmere Blasen. In Sandalen über das Kopfsteinpflaster: Das waren Schmerzen! - Das Refugio in Navarrete ist ansonsten nur zu loben. Abends ging es in die benachbarte Kirche zur Messe, über Kopfsteinpflaster!
Wieder legten Harald und ich ein mörderisches Marschtempo vor. In Nájera hatten wir die Gruppe endgültig abgehängt. Wir kamen am Refugio vorbei: dort stellten die ersten "Knistertüten" um 10.30 Uhr (!) ihre Rucksäcke ab. Nach einem Wettlauf mit einem Spanier, der gar nicht nach Azofra wollte, trafen wir schon gegen 11.45 Uhr dort ein. Vor dem Refugio saß ein betrübter spanischer Pilger, der wegen seiner kaputten Füße nicht mehr weiterkonnte, neben ihm ein (dänischer) Freizeithospitalero. Ja, bleiben könnten wir nicht, allenfalls in einem Notquartier ohne Wasser. Das Refugio sei vom Cura von Logroño höchstpersönlich für zwei Jugendgruppen reserviert worden. Die Niederlage von Viana hatte mich gestählt. Ich holte unser Aussendedokument heraus und sagte auf Spanisch: "Wir sind offizielle Pilger, und uns steht die Unterkunft zu. Ich bestehe darauf. Sie kennen die Regeln, eine Reservierung ist ein Verstoß." Der Däne bat, Englisch reden zu dürfen. Ja, wenn wir den Lärm der Jugendlichen aushalten wollten... Er trug uns ins Refugiobuch ein, stutzte, fragte: "Deutsche, etwa aus der Nähe von Köln?" - "Naja, mehr oder weniger." (Nämlich 170 km entfernt, um genau zu sein ;-)) - "Und kennen vielleicht den dortigen Vorsitzenden der Jakobsbruderschaft?" "Nicht persönlich." Ich spielte den Geheimnisvollen, las in seinem nachdenklichen Gesicht: Der Bart, das Kreuz, etwa ein hohes Tier inkognito? "Fischer, Fischer, ... Habe ich von Ihnen nicht schon mal irgendwo gehört?" fragte er grübelnd. Ich zuckte mit den Schultern: "Kann sein, warum nicht?" ;-)
Also, wir zogen mit unserem spanischen Pilgerfreund, er hieß Ernesto, ins Refugio und belegten Betten. 20 Minuten später war Doña María, die offizielle Hospitalera da. Ob ich Pater sei? (Klar, der mit seinem Sohn unterwegs ist :-)) Nein? Dann, Sekunden später: Aber vielleicht Pfarrer? Auch nicht? Sie zog verwirrt und unsicher wieder ab. -
Die Gruppen sind nie gekommen... :-) Aber noch viele müde Fußpilger (z.B. Heidi), von denen Anne (Name geändert), die Engländerin, am andern Morgen mit 4.30 Uhr einen Knisterrekord aufstellte. Ich hätte sie erschlagen können.
Achtung: Dort führen die gelben Pfeile am Stadteingang in die Irre, nämlich geradeaus in die Hauptgeschäftsstraße, während man schräg rechts auf der alten Pilgerstraße bleiben sollte, die direkt zum Refugio und zur Kathedrale führt. Wir merken es erst am Ende der Altstadt und müssen maulend zurück, denn die Kathedrale mit dem Hühnerpaar wollen wir doch sehen. Wir treffen Max (Name geändert), einen schweigsamen 17-Jährigen, der allein unterwegs ist, wieder, ferner María (Name geändert), eine Spanierin aus Madrid, die bis Burgos pilgert.
Heute haben meine Frau und ich den 30. Hochzeitstag, und das getrennt! Wenigstens werde ich anrufen. Das entwickelt sich zu einem Drama. In Spanien muss jedes Dorf zwar mindestens 1 öffentliches Telefon haben, aber das Gesetz sagt nicht, dass es auch funktionieren muss ;-) In Grañón ist es gerade kaputt, und die einzige Bar mit Telefon wegen Umbau geschlossen. Ausnahmsweise lässt mich der nette Hospitalero von seinem privaten Mobiltelefon aus anrufen. Erst gegen 22 Uhr schaffe ich es also, aber immerhin!
Zum Abendessen musste jeder etwas einkaufen. Es schmeckt prima. Leider kein gemeinsames Gebet. Das Refugio ist wieder mal proppenvoll, 42 Leute, wo es oft nur ein Dutzend sind. Einige schlafen sogar direkt über dem Kirchenraum auf dem taubenkotverschmutzten Gewölbe, wo sonst die Wäsche hängt. O Graus!
Grañón ist sehr bekannt. Alle "echten" Pilger, die wir kennen lernen, sind dort gewesen. In kleinem Kreis ist dort sicher der authentische Camino zu spüren, wie alle berichteten.
Die Strecken, die ich vor zwei Jahren schon einmal gelaufen war, kannte ich problemlos wieder, manchmal mit erstaunlichen Einzelheiten. Ich hatte auch den Eindruck, dass man sie viel schneller lief. Harald profitierte auch davon, weil ich immer sagen konnte: "Gleich kommt schon das." und "Da hinten ist schon unser Ziel." Wenn das Ziel in Sicht war, zog es einen sowieso magisch an, und man mobilisierte automatisch die letzten Kräfte. Da ich wusste, dass uns in Villafranca Montes de Oca ein Zeltlager erwartete, bei dessen Größe es keine Schwierigkeit mit der Unterbringung geben würde, ließen wir uns endlich einmal wieder Zeit und machten mittags auf einem Stoppelfeld hinter Belorado ausgiebig Mittag und Siesta (Isomatten!).
In Villafranca war es wie erwartet. Radfahrer mussten bis 18 Uhr warten, wir bezogen sofort ein 5-Personen-Zelt, zusammen mit einem älteren Franzosen und der "dunklen Französin", die fast schwarzbraun gebrannt war, und ihrem spanischen Begleiter. Heidi kam in einem anderen Zelt u.a. mit der "blonden Französin" unter.
Der Platz im Zelt ist knapp: vorn passen gerade 4 Matratzen nebeneinander, hinten liegt die 5. quer; nur vor und hinter dieser bleiben kleine Ecken für das Gepäck von 5 Leuten. Wohl oder übel muss man einen Teil seiner Sachen mit auf der Matratze unterbringen. Es empfiehlt sich auf keinen Fall, vor dem Zelt etwas abzustellen; denn nachts kommt immer Tau herunter, und alles verklebt mit den trockenen Grasstückchen, mit denen der Zeltplatz bedeckt ist. Ansonsten hat ein Zeltlager einige Vorteile. Es gibt große Wagen, die einen mit Toiletten, die anderen mit Duschen, die dritten mit Waschbecken für die Wäsche. Auch weht durch die Zelte nachts ein frischer Wind, so dass man im Schlafsack herrlich ruht.
Die benachbarte Kirche wurde gerade für eine Besichtigung aufgeschlossen. Als Pilger durften wir gleich mit hinein. Sonst ist in Villafranca Montes de Oca nichts zu sehen. Zu essen gab es in einer Fernfahrerkneipe an der Hauptkreuzung am Ortseingang. Dort beobachtete ich, wie zwei englischsprachige Damen vergeblich versuchten, etwas zu bestellen; die Wirtsleute verstanden sie nicht. Da gaben sie auf und gingen wieder.
Aber der obligatorische Lebensmittelladen war schwierig zu finden: an der Kirche vorbei die Hauptstraße entlang, "nach oben", wie man uns sagte. Dann kommt rechts eine Wirtschaft, und in dieser (Hinterzimmer) gibt es auch nichtflüssige Lebensmittel zu kaufen.
Jetzt also, um 7 Uhr, schauen nur einige fröstelnd aus den Zelten. Da kann ich es nicht lassen. Mit blankem Oberkörper stapfe ich durch das Lager den Waschwagen zu. Ich kann die schaudernden Blicke in meinem Rücken spüren. Im übrigen ist es verdammt kalt.
Später der Aufbruch: Es geht sofort sehr steil die Oca-Berge hoch. Wir kommen an einem englisch-dänischen Paar vorbei, die wir noch bis León dauernd wiedersehen werden. Dank dem Handbuch von DuMont zweigen wir am Kilometerstein "M.P.61" ("M.P.60" habe ich nicht gesehen) links ab zur Schnellstraße mit dem Rastplatz "Valdefuentes" und einer sehenswerten Kapelle. Neben dieser geht es schräg ein Asphaltsträßchen hoch zum Camino zurück. Man verliert dadurch nur etwa 500 m.
Wir hingegen hatten einen heißen Tipp: ein paar Kilometer weiter, etwas abseits des Pilgerweges, liegt ein neues kleines Refugio: Olmos de Atapuerca. Leider ließen wir uns durch eine irreführende Übersichtskarte (aus dem Pilgerführer von Millán Bravo Lozano), die Bernd uns zeigte, dazu verleiten, über das Dorf Barrios de Colina zu gehen. Das waren etwa 2 km Umweg. (Außerdem haben wir Atapuerca mit seinen weltbekannten Ausgrabungen verpasst.) Man sollte also von San Juan aus den Jakobsweg nach Atapuerca weiter und von dort nach Olmos de Atapuerca gehen. Es war aber eine merkwürdige Fügung mit diesem Umweg: Unterwegs holt uns Bernd ein. Er habe auf einmal eine Eingebung gehabt, "einen weiter" zu gehen, sagt er. Ein freundlicher Bauer hält gerade seinen Traktor an und ruft: "Da hinten abbiegen. Da gibt's ein Refugio." Ja, danke, endlich Olmos de Atapuerca erreicht. Wir fragen Bernd, wie seine Füße so wunderbar abgeheilt sind, dass er uns sogar noch eingeholt hat. Er zieht das Wunderpflaster (siehe "Allgemeine Informationen", Abschnitt "Blasen, Blasen, Blasen") aus der Tasche und erklärt dessen Handhabung. Könnte das nicht auch unsere Rettung sein? Unsere Blasen plagen uns immer mehr. Da Bernd von Burgos am nächsten Tag nach Hause fährt, braucht er das Wunderpflaster nicht mehr und verkauft die restliche Rolle an uns. Das hat uns tatsächlich gerettet. (Ich habe es nicht sofort verwendet, weil das Compeed-Pflaster noch hielt.)
Das Refugio von Olmos de Atapuerca steht wohl noch in keinem Handbuch. Deshalb kamen so wenige Pilger, dass kaum einer auf dem Fußboden landete. Um die Ecke war eine Bar, die abends auch ein Pilgermenü anbot.
In den Dörfern im Tal gab es mehrere neu eröffnete Bares, wie angenehm. Ich hatte vom Rotwein vom Vorabend einen Kater. Dann kam der Stadtrand von Burgos. 7 km geht es schnurgerade eine Schnellstraße durch die Industrievororte entlang, eine der ödesten Strecken des Camino. Heidi wollte eigentlich mit dem Bus reinfahren, ließ sich dann aber von uns (200 m vor ihr) "mitziehen", wie sie erzählte, nachdem sie uns eingeholt hatte. Wir hielten Ausschau nach einer Abzweigung zum Kloster Miraflores. Eine Übersicht zeigte aber, dass es diese nicht gab; der Flugplatz ist dazwischen. Man hätte also vom Rand der Altstadt aus einige Kilometer zurücklaufen müssen. Das war nun wirklich nicht drin!
Vor der Altstadt verabschiedete sich Horst (Name geändert), einer der wenigen echten Pilger, gerade von Maria, mit der ich Tage zuvor unterwegs so nett geplaudert hatte. Sie fuhr nach Madrid zurück.
Unser Esperantofreund Augusto (siehe meinen Bericht von der Gruppenfahrt vor zwei Jahren) aus Valencia hatte mir Stadtpläne von Burgos, León, Astorga, Ponferrada und Santiago geschenkt. Diese kamen uns beim Einmarsch in die Städte gut zupass. Man wusste, wo man war, und konnte den Lauf des Pilgerweges verfolgen, auch wenn die gelben Pfeile mal schwer zu finden waren. Das Refugio von Burgos besteht aus einigen Holzhäusern in einem netten Park, leider weit von der Innenstadt entfernt. Die Schlafräume sind äußerst eng. Zur Nacht wird man eingeschlossen, und die Fenster sind vergittert! Das dürfte es nicht geben, auch wenn der Hospitalero, der den Schlüssel hat, mit im Haus schläft. Sonst konnte man gut zufrieden sein. Abends kamen freundliche Damen und teilten eine kostenlose Suppe aus.
Harald und ich fuhren mit dem Bus zurück in die Innenstadt zur Besichtigung und zum Einkaufen. Der Dom ist nicht besonders schön, total verbaut. Außerdem nervten die überall herumwuselnden Touristen, die sich dann auch noch mit Pilgermuscheln um den Hals grölend ablichten ließen. Auf dem Rückweg verabschiedeten wir uns von Bernd. Dann schrieben wir Karten nach Hause. Dass die Blasen sich eher verschlimmert hatten, drückte uns. Ich war nicht sicher, ob ich bis Santiago kommen würde, und wir überlegten schon, ob Harald, dessen Blasen weniger schlimm waren, dann allein laufen und ich parallel mit dem Bus fahren sollte.
Weitere Informationen über Burgos im Bericht 2001 zum Vergleich.
War wieder nichts mit der Romantik! Den Einsiedler gab es nicht mehr, und der Hospitalero sagte zur Begrüßung: "Na, euch beiden sieht man die Deutschen schon von weitem an." (Er pflegte den Pilgerweg mit dem Fernrohr zu beobachten.) "Ich bin aus Iserlohn." Er erzählte uns von einem Pilger, der vor einigen Tagen mit drei Dromedaren vorbeigekommen sei. Wir schauten etwas verlegen: Hatte ihn die Einsamkeit erwischt oder hatte er zu oft nach der "botella de apoyo" gelangt? (Später wurde seine Erzählung bestätigt; die drei Dromedare und ihr Führer erschienen sogar im Fernsehen.) Die beiden "Jungs mit der Fahne" trafen auch ein, gingen aber weiter. Auch andere Pilger zogen in Scharen vorbei. Da stach uns wieder der Hafer: Komm, die 4,5 km bis Hontanas schaffen wir auch noch.
Also los, wieder gehetzt, versucht, noch einige zu überrunden - und die Füße weiter kaputtgelaufen, und dazu noch völlig überflüssigerweise: Das Haupthaus des Refugios in Hontanas (sehr schön renoviert!) war zwar schon belegt, aber es gab ein Nebenhaus mit großem Schlafsaal und trotzdem nur 16 Betten, also viel, viel Platz, und dazu noch eigene Duschen und Toiletten. Super!
Mein linker Fuß sah schlimm aus. Eine neue Blase war unter dem Compeed-Pflaster hervorgequollen. Also runter mit dem Pflaster, die Blase gründlich aufgestochen und ausgedrückt. Dann Bernds Wunderpflaster großflächig über den halben vorderen Fuß gezogen. Danach tat es fürchterlich weh, so dass ich nach zwei Stunden eine Tablette nahm. Etwas später klang der Schmerz ab. Ich war heilfroh, hatte mich schon wieder vor dem Aus gesehen.
Abends servierte die resolute Herbergsmutter ein prima Abendessen. Danach wollten wir noch in die Bar, die beim Reinkommen in Hontanas etwas vor dem Refugio liegt. Sie hatte laut Pilgerberichten einen etwas zweifelhafte Ruf. Erstaunlicherweise war sie geschlossen. Wahrscheinlich hatte der Wirt heute einfach keine Lust. Wir haben keine andere Bar gefunden und mussten ohne Schlummertrunk ins Bett. :-(
Nun drangen wir also tiefer in die Meseta ein. "Die Landschaft verändert sich langsam und wird zusehends wüstenhafter." schreibt das Outdoor-Handbuch über die Gegend hinter Hontanas. So ein Quatsch! Man kommt aus den Bergen heraus, und bis Castrojeriz ist alles grün. Die Stadt schmiegt sich um einen kahlen Berg mit einer riesigen Ruine darauf. (Zu Hause dachte ich immer, dass man da doch unbedingt "eben" hochsteigen müsse. Ha ha!) Dahinter folgt ein sehr steiler Aufstieg und dann eine mehr oder minder kahle Hochebene, das ist wahr. Aber: überall sieht man noch Grünes, ein paar Kilometer weiter folgt eine Quelle, und dann kommt schon der wasserreiche Fluss Pisuerga, mit einem breiten Waldsaum. "Typisch Wüste!" spotteten wir.
Vor der alten Brücke über den Fluss liegt die ehemalige Einsiedelei San Nicolás, ein vorbildlich renoviertes Gebäude mit einem Häuschen dahinter, in dem sich die Wohnung des Hospitaleropaares und Duschen und Toiletten befinden. San Nicolás war wieder ein Geheimtipp. Es ist von außen gar nicht als Refugio zu erkennen. Tatsächlich sind innen 8 Betten (und einige Matratzen auf der Empore), aber - eine Besonderheit - wer hier vor 18 Uhr eintrifft, wird zu dem nur 2 km entfernten nächsten Refugio von Itero de la Vega weitergeschickt. Man will sich so auf die "Notfälle" (das entsprach unseren "Spätläufern") beschränken. Ich hatte zu Hause ja viele Berichte und Reportagen studiert und mir San Nicolás sorgfältig gemerkt. Nur hier soll der Pilgergeist noch wirklich lebendig sein: den Pilgern wird sogar ein Fuß gewaschen, hieß es. Warum nur einer, habe ich nicht begriffen; mein anderer hatte es immer genauso nötig :-)
Nachdem wir schon öfter erlebt hatten, dass es um die Stätten des Camino auch viel romantisches Geranke gibt, das der nüchternen Wirklichkeit nicht standhält, waren wir neugierig und skeptisch.
Ein Italiener (selbst "echter" Pilger) empfing uns. Dann kam der Hospitalero, ebenfalls ein Italiener. Ich erklärte ihm, dass wir von dem besonderen Pilgergeist in San Nicolás gehört hätten und deshalb, als echte Pilger (hier war wieder die Aussendeurkunde nützlich), um Unterkunft bäten. Er stimmte zögernd zu, sagte uns dann, dass normalerweise (es war erst 12 Uhr) alle noch weitergeschickt würden. Na, gut dass ich so formal gewesen war! Etwas später fuhren das Hospitaleropaar und der andere Italiener zum Einkaufen, ließen mir den Schlüssel da, mit dem Hinweis, niemanden ins Haus zu lassen. Also wusch ich meine Wäsche (Harald schlief auf dem Rasen) und genoss die Einsamkeit und Ruhe. Später saß ich auf der Bank vor dem Haus und sagte allen Tocktocks: "Nein, ich bin nicht der Hospitalero" (auch wenn ich so aussehe :-)) und "Der Hospitalero ist nicht da und das Refugio geschlossen." Also zogen sie alle weiter, bis Heidi und Horst (von San Bol) ankamen. Hm, meine Freunde und echte Pilger, das war ein harter Konflikt: Ich schloss die Tür auf und ließ sie ein. (Ob sie bleiben könnten, konnte der Herbergsvater ja immer noch entscheiden, dachte ich.) Sie gingen dann duschen, ich schloss das Refugio wieder ab; etwas später kam ein weiterer Deutscher, den ich aber nicht einließ; er wollte dann auf den Herbergsvater warten. Der kam dann auch bald. Ich beichtete ihm gleich, dass ich zwei Freunde - echte Pilger - eingelassen hätte, er wandte sich ab. Etwas später nahm er Heidi und Horst auf, den dritten Deutschen auch. Dann kam er doch noch zu mir. Ob ich nicht verstanden hätte, niemand ins Haus lassen zu sollen? Doch. Ich habe also bewusst gegen seine Anweisung gehandelt? Ich mit festem und offenen Blick: Ja. Er schaute mich irritiert an, konnte sich mein Verhalten nicht erklären, drehte sich dann wortlos um und ging. Ich bedauerte wieder die Sprachbarriere; mein Spanisch reichte nicht für subtile Begründungen. Ich fand, dass hier nur echte Pilger unterkommen sollten; außerdem, wie gesagt, er hätte ja die beiden immer noch weiterschicken können. Es ist üblich, Refugio-Einrichtungen benutzen zu dürfen, auch wenn man nicht unterkommt oder bleiben will.
Dieses Vorkommnis warf einen bleibenden Schatten auf diesen sonst so einzigartigen Aufenthalt. Dieser wurde noch weiter getrübt. Ein Wohnwagen fuhr vor, mit zwei Italienern, die evtl. Bekannte des Hospitalero waren. Sie begrüßten ihn lärmend, gingen lärmend duschen und benahmen sich überhaupt wie zu Hause. Später erfuhr ich: Sie waren hier quasi zu Hause, da sie die italienische Ablösung für das Hospitaleropaar waren. - Aber es kam noch besser. Die Hospitalera bereitete ein feierliches Abendessen mit Kerzenschein (für alles wurden nur Spenden erwartet). Gerade wurden wir in der Abenddämmerung hereingerufen, da keuchten noch zwei Spätläufer heran: Anne, die Engländerin, in Begleitung eines Landsmannes, der zu Hause den Aussteiger gemacht hatte und jetzt durch die Welt bummelte, wobei er keine Gelegenheit ausließ, seine Kasse zu schonen. So konnten wir das Abendessen um eine Stunde verschieben, bis die beiden sich eingerichtet und geduscht hatten. Dann kam die Fußwaschung. Irgendwie war die Atmosphäre zerstört. Die Feierlichkeit, mit der sich der Hospitalero einen Überwurf, mit zwei Muscheln besetzt, umhängte, um dann über unseren linken Fuß Wasser zu gießen, wirkte aufgesetzt und leer, Zeremonie, um eine Tradition wieder aufleben zu lassen (wie der Hospitalero erklärte), also nicht Ausdruck der Harmonie unter christlichen Schwestern und Brüdern. Neben mir kicherte der "Aussteiger". Er trank dann später auch die Hälfte des gesamten Rotweins und beschwerte sich beim Frühstück lautstark über meine Schnarcherei, bis die anderen ihm sagten, er habe selbst auch geschnarcht.
Nachts war es stockdunkel. Ich konnte nicht raus, weil es kein elektrisches Licht gab und ich die Hand vor Augen nicht sah. Alle verschliefen, bis uns der Hospitalero um 7.10 Uhr aus den Betten warf. Ich hätte besser auf dem Rasen in einem Zelt geschlafen.
O was waren wir danach gut drauf! Die Füße schmerzten nicht mehr. Eine Jugendgruppe, die gerade über die Brücke ging, staunte nicht schlecht, als Harald und ich, laut das Pilgerlied "Wer das Elend bauen will" singend, an ihnen vorbeizogen. Später umfing uns die Einsamkeit der Meseta mit endlosen Kornfeldern. Mir kam der Konflikt vom Vortag wieder hoch. Ich analysierte mein Verhalten und stellte Hochmut, Selbstherrlichkeit und (Futter)Neid fest. Au weia, du echter Pilger!
Endlich Boadilla del Camino (hier reizt der Wortwitz "Bocadillo del Camino") mit einem privaten Refugio und angeschlossener Bar, alles neu und gut in Schuss. Hier sahen wir vorerst Heidi zum letzten Mal, weil sie wegen unserer verkürzten Etappen nun einen halben Tag Vorsprung erhielt; auch Horst sahen wir vorerst nicht wieder. Statt dessen wurden wir von vielen hinter uns eingeholt, so dass wir nun mit neuen Pilgern zusammen liefen.
Bald erreichten wir einen Kanal ("Typisch Wüste") und kurz darauf Frómista. Alle Geschäfte wegen des Sonntags geschlossen, die Stadt brütend heiß. Aber Bares gab es reichlich. Unsere Engländer saßen am Nebentisch, zusammen mit einem Niederländer (Vollbart, oben immer nur mit einer offenen Weste bekleidet, mit Hund), den wir das erste Mal in Viana gesehen hatten. Auch ihn sahen wir bis Santiago regelmäßig wieder. Dann machte das Refugio auf (wir waren 4. und 5.). Die Refugiohelfer waren junge Leute, die alles fröhlich und fix bewältigten. Wir bekamen u.a. einen Tipp, wo man abends ein preiswertes Pilgermenü bekam. (Auch andernorts sollte man immer gleich im Refugio die Helfer fragen. Wir haben damit beste Erfahrungen gemacht.) Nach dem Unterkunftbeziehen ging es etwas verspätet zur Sonntagsmesse. Das Abendessen (mit den "fröhlichen Franzosen", die uns natürlich immer wieder mit Rotwein zuprosteten) war prima.
Nachts werde ich von einem Klappern und Schnalzen wach. Rechts von mir sitzen einige Jungen in den Betten und machen Krach. Was ist los? Die Mädchen links neben uns rühren sich nun auch. Sie stellen die Jungen zur Rede. Ich verstehe genug, um rote Ohren zu kriegen. Der Grund für die Aufregung bin ich, genauer gesagt, mein Schnarchen. Die Mädchen kanzeln die Jungen ab, sie hätten es hinzunehmen. Ich schäme mich und bin doch auch gerührt über die Hilfe. Schon dusele ich wieder ein. Mit Klappern und Schnalzen weckt man den Scharcher zwar, stellt das Schnarchen aber dadurch nicht auf Dauer ab. Am besten berührt man mich an der Schulter. Dann drehe ich mich automatisch andersherum, was oft hilft.
Der morgendliche Albtraum des Packens im dunklen Schlafsaal wurde dadurch vermieden, dass die Refugiohelfer um 6 Uhr singend durch die Räume zogen und das Licht anknipsten. Bravo! Zum Überfluss gab es dann noch kostenlosen Kaffee mit Keksen. Super! Früher galt Frómista als die Stadt mit dem schlechtesten Refugio des Camino; das neue Refugio ist in jeder Hinsicht vorbildlich.
Schon 11 Uhr erreichten wir unser Ziel, das Refugio von Carrión de los Condes. 1. und 2.! :-) Unmittelbar nach uns trafen aber schon die nächsten Pilger ein und setzten ihre Rucksäcke neben unseren ab. Wir gingen dann eilig in die nächste Bar, ohne zu wissen, wann das Refugio geöffnet wurde. Um 14 Uhr waren schon 32 Betten belegt, und unsere Rucksäcke standen einsam auf der Straße, wenigstens unberührt.
Um das Refugio kümmert sich eine ältere Dame, die Schwester des Pfarrers der benachbarten Kirche. Letztere war wenigstens geöffnet, was anderswo oft nicht der Fall war. Hochwürden hatte uns schon auf der Straße begrüßt, sich entschuldigt, dass das Refugio noch geputzt werden müsse und sich dann vergewissert, ob ich nicht ein Amtsbruder war. War ich nicht. Na, machte nichts. Seine Schwester war streng, aber auch sehr hilfsbereit. Sie schickte uns zu einer urgemütlichen Bierkneipe, wo wir auch günstig und gut aßen.
Durch Carrión (die Stadt der "Condes", der Grafen) fließt der gleichnamige Fluss, mit viel Wasser. Dann geht es noch einige Kilometer durch Grün und über einige Wasserläufe hinweg, aber dann kommt man (hinter einer riesigen Autobahnbaustelle) endlich einmal in die "richtige" Meseta, die wir vor Frómista schon kurz kennen gelernt hatten:
Zwischendurch ein (abgewandelter) Witz:
Treffen sich abends drei Jäger, die in der Meseta auf Jagd
waren. "Mist", brummt der erste, "nichts erwischt." "Nun, ich habe
wenigstens zwei Wachteln geschossen", meint der zweite. "Und ich drei
Tocktocks" sagt der dritte stolz. "Tocktocks? Was ist das denn?"
"Ja, die kannte ich vorher auch nicht. Die laufen auf drei Beinen
und machen mit dem ersten immer tock! tock!"
Kein Witz: Tatsächlich hörten wir von einem Pilger, der angeschossen wurde, allerdings aus einer solchen Entfernung, dass die Schrotkugeln nur rote Flecken auf seiner Haut hinterließen. - Was um alles in der Welt da auf dem Boden (!) zwischen dem Reststroh der Felder abgeballert wurde, konnte man nicht sehen. Einmal steckte ein Jäger etwas in die Tasche, das er mit einer Hand umfassen konnte. Es waren wohl arme kleine Wachteln. Sie standen eine Zeit lang auch auf dem Speisezettel der Pilgermenüs. Nichts für uns!
Die Autos hatten ausschließlich Kennzeichen der Großstädte Spaniens, teils Hunderte von Kilometern entfernt. Die Hunde wurden in kleinen Anhängern transportiert und heulten und bellten entsetzlich, wenn die Autos mit ihnen über die Landstraße donnerten. Die spinnen, die Jäger!
Wir wollten uns weiter an Sahagún heranschieben, um diese Stadt nach unserem Prinzip "immer eins weiter" auf der nächsten Etappe überschlagen zu können. Leider verpassten wir in Ledigos die Abzweigung zu einer Ausweichstrecke, abgelenkt durch den Wettlauf, der in Richtung Terradillos de los Templarios wieder begonnen hatte. In der Ferne sahen wir zwei Mädchen parallel einen sicher viel schöneren Feldweg laufen. Sie trafen gleichzeitig mit uns am Ziel ein, einem privaten Refugio in einem sonst gottverlassenen Kaff.
Zwei unsympathische Franzosen riefen uns gleich hämisch zu: "Gibt sowieso keine Betten!" Nun, wir wandten uns an die Hospitalera, eine sympathische und tüchtige Frau. "Es seien ja noch Matratzen da" beschwichtigte sie. Na also. Ich bekam dann sogar doch noch das letzte Bett (1.000 P.), Harald und die Mädchen eine Matratze (500 P.), alles sehr reell. Es stellte sich heraus, dass sie 4 Zimmer (mit 2, 3, 5 und 6 Betten) hatten, die kleineren waren vorbestellt! Private Refugios brauchen sich ja nicht an die sonst üblichen Regeln zu halten. Nun, wir hatten es ja noch gut, weil wir so früh (12.45 Uhr) eingetroffen waren. Nach uns riss die Reihe der erschöpften Pilger nicht ab. Sie durften auf dem Rasen lagern (einige blieben sogar über Nacht) und sich erholen. Später sahen wir, dass es genau gegenüber dem Refugio noch einen Pilgerrastplatz mit Wasser gab. Dort stand abends dann ein halbes Dutzend kleiner Zelte.
Der Familienbetrieb unterhielt auch einen kleinen Laden und eine Bar. Selbstverständlich konnte man ein Abendessen bestellen. Was wollte man mehr? - Ich unterhielt mich noch länger mit einer Französin (auf Englisch). Auch sie war echte Pilgerin und beklagte, dass der Camino in Spanien kaputt sei. In Frankreich gäbe es noch Platz und Ruhe.
Auf dieser Etappe konnten wir übrigens Halbzeit bis Santiago feiern. Eigentlich waren wir jetzt überzeugt, die zweite Häfte auch noch zu schaffen. Unsere Füße waren trotz des Wettrennens in Ordnung.
Wir hatten uns ausgerechnet, dass wir, im Vergleich zur ursprünglichen Planung, auf dem Römerweg evtl. sogar 1 Tag sparen konnten. Außerdem sollte der Weg schöner sein. Diese Entscheidung haben wir nicht bereut.
In Calzada del Coto (kein einladender Name) war gerade ein Volksfest im Gang. Ehe wir es uns versahen, umringten uns alkoholselige Einwohner. Mir wurde ein Riesenhumpen Bier gereicht (ich nahm einen tiefen Zug), danach eine dunkle Brühe (Kaffee? Coca Cola?) (ich nahm einen tiefen Zug, jemand schrie: despacio - langsam) - es war irgendein Schnaps (hust! röchel!). Man johlte und bearbeitete mehrere Musikinstrumente, wir sollten doch dableiben! Einen Moment gab es die Versuchung; aber wir konnten ja nicht unseren schönen Marschplan über den Haufen werfen, nur, um hier zu versacken. Also, rissen wir uns eilig los und zogen wieder in die Meseta. Bald kamen wir sogar in einen Buschwald, alles noch grün. Nun brannte die Sonne wieder, aber nach einer Pilgerquelle (total vermüllt!) waren wir auch schon am Ziel Calzadilla de los Hermanillos, das "Landsträßchen der Brüderchen"; also Namen haben die spanischen Dörfer!
Das kleine Refugio liegt mitten im Dorf an der Hauptstraße. Küche, Duschen/Toiletten, Aufenthaltsraum, Nischen mit je 4 Kojen (Bettlänge nur 1,85m) liegen direkt hintereinander, alles offen, ohne Türen. Wenn man also in der Küche vorne hustet, hört man das hinten in der letzten Koje, als ob es im Nachbarbett wäre. Das sollte uns noch unsere Freude über diesen ruhigen Winkel verderben. Am Nachmittag kam ein Pärchen, duschte und schlief ein paar Stunden; dann zogen sie weiter. Die beiden übernachteten wohl in einem Zelt im Wald. Sonst waren wir die einzigen Pilger; am Vortag war Horst dagewesen (laut Refugiobucheintrag). Er erzählte uns später, das Dorf sei wegen eines seltenen Schauspiels zusammengelaufen: etwa 30 Geier zerlegten in der Nähe ein verendetes Schaf. -
Eine Hospitalera erschien und wies uns ein. Dann verschwand sie wieder. Der einzige Laden war ausnahmsweise schwer zu finden, abseits der Hauptstraße und ohne Reklameschild. Weiter die Straße hoch eine Bar, aber ohne Abendessen anzubieten. - Nun, nach dem üblichen Pilgertagesablauf: Betten belegen, duschen, Wäsche waschen, einkaufen, nahmen wir in der Bar einige Bierchen zu uns und stolperten dann fröhlich zu unserer Idylle zurück. Ja, von wegen Idylle! Inzwischen lärmte dort eine Gruppe Spanier. Als wir zur Refugionachtruhe um 22 Uhr demonstrativ zu Koje gingen, tat das dem Treiben keinen Abbruch. Im Gegenteil! Jetzt wurde abgekocht, gegessen und gelacht. Dann erst die Waschmaschine, danach der Trockner angeworfen, das dröhnte durch die gesamte Unterkunft. Erst gegen 24 Uhr war Ruhe. Harald und ich knirschten vor Empörung. Es darf bezweifelt werden, ob es überhaupt Pilger waren. Ich habe den Verdacht, dass sie ein Auto um die Ecke stehen hatten, trotz der großen Rucksäcke. Sie waren einfach zu ausgeruht, um wirklich gelaufen zu sein. Hinzuzufügen ist noch, dass die Dorfbewohner dann auch noch bis 2 Uhr vor dem Refugio auf der Straße Krach machten.
Wir planten, aus Rache morgens um 5 Uhr geräuschvoll aufzustehen und unsere lauten Bettnachbarn ihrem Rotweinkater zu überlassen. Auch hoffte ich, in dieser Nacht wirklich übel zu schnarchen, legte mich absichtlich auf den Rücken, konnte dann aber nicht schlafen, so sauer war ich. Es wurde eine meiner schlimmsten Nächte, und das in dieser Idylle!
Ausnahmsweise gingen wir wie "Knistertüten" schon um 7.05 Uhr, vor Anbruch des Tages los (je weiter wir nach Westen kamen, desto später wurde es hell). Das war möglich, weil es nur eine einzige Straße gab, die man immer geradeaus gehen musste. Also kein Pfeile-Suchen. Auf dem Marsch litt ich unter der Auseinandersetzung. Zu dem Unfrieden hatte ich doch auch durch meine Empörung beigetragen, berechtigterweise oder nicht. Aber die trüben Gedanken schwanden bald dahin.
Achtung, Tipp: Ich rate von diesem letzten Teil ab. Hinter der Flussüberquerung kommt man an eine Kreuzung, von der aus es nur 1 km zum eigentlichen Camino in Reliegos ist. Von dort führt der Weg schnurgerade in die Stadt. Erst später habe ich festgestellt, dass das DuMont-Handbuch auch genau diese Abweichungsempfehlung gibt. Man soll dadurch glatt 1 1/4 Stunden sparen. Genau das hatte ich schon geargwöhnt.
In Mansilla de las Mulas trafen wir auf eines der erfreulichsten Refugios, die wir erlebten. Alle Einrichtungen gebraucht, aber in gutem Zustand. Ein freundlicher, persönlicher Empfang. Freizeithospitalero Wolf Schneider ist schon an die 70, hat aber vor kurzem selbst noch 2.000 Kilometer zu Fuß zurückgelegt und kennt sich mit allen Sorgen und Nöten der Pilger aus. Er bietet an, die Füße zu versorgen und kontrolliert (auf meine Bitte) auch den Sitz unserer Rucksackgurte. Wir bekommen ein geräumiges 6-Bett-Zimmer zugewiesen. Es landet danach auch niemand mehr bei uns auf dem Fußboden. Super! Im Innenhof kann man gemütlich sitzen und Kontakte knüpfen. Eine junge Ärztin kuriert kaputte Pilgerfüße, ohne eine Bezahlung anzunehmen. Radfahrer kommen später auch unter, aber nicht mehr, als das Haus verträgt. Vielleicht war ja auch an diesem Tag etwas Glück dabei. Ich habe jedenfalls Mansilla de las Mulas in bester Erinnerung. Und tatsächlich hatten wir jetzt einen weiteren Tag herausgeholt. Ich wusste auch schon, wo wir diesen gut gebrauchen konnten.
Nachts fahre ich gegen 3 Uhr hoch. Da grölt doch ein ganzer Haufen im Erdgeschoss rum. Sind die denn des Teufels? Ich tappe wütend aus der Tür und sehe dann, dass der Lärm von unten durch ein geöffnetes Fenster hereindringt: das Volk feiert mal wieder mitten in der Nacht auf der Straße. Die spinnen, die Spanier!
Zu der berühmten Kirche San Miguel de Escalada sind wir nicht gekommen. Harald schlief nachmittags, und ich brauchte auch Ruhe, anstatt sofort wieder einen Ausflug zu organisieren. Heidi, die uns einen Tag voraus war, hat es geschafft, von einem Sohn des Hospitaleros mit dem Auto dorthin kutschiert zu werden. Ja, so ist das, wenn man fließend Spanisch kann!
Dank meinem Stadtplan fanden wir das Refugio im Stadtzentrum ohne Mühe. Man hatte uns von dieser Unterkunft bei den Benediktinerinnen abgeraten. Das andere Refugio lag uns aber zu weit vom Zentrum entfernt, denn die berühmte Kathedrale wollten wir doch gesehen haben. Nun, es war lästig, dass man von 14 bis 16 Uhr ausgesperrt wurde. Aber die Duschen und Toiletten waren sehr gut, der Schlafsaal weniger. Über 60 Betten, dicht an dicht, und dann macht noch irgendwer nachts die 4 Fenster zu. Als ich danach von der Toilette zurückkam, warf mich der Mief im Schlafsaal fast um. (Ich habe dann einfach die Tür offen gelassen.) - Horst hat man für die zweite Nacht (er musste wegen seiner kaputten Füße einen Tag pausieren) ein Privatzimmer für 1.500 P. (samt Frühstück) vermittelt. Eine solche Lösung ist doch wohl besser.
Die Kathedrale von León ist (auch im Vergleich zu Burgos) wirklich sehr schön. Man kann in ihr auch beten... :-) Auch sonst ist León eine sehenswerte Stadt.
Als ich zurückkam, berichtete Harald, dass Anne und ihr Aussteigerfreund aufgetaucht seien und den ganzen Schlafsaal aus der Siesta gerissen hätten. Ich konnte es mir vorstellen, er hat schon von Natur aus ein lautes Organ. - An der Ecke der Straße zum Refugio ist ein kleines Restaurant, in dem zwei Frauen ein gutes Pilgermenü anbieten (wieder Tipp einer der Refugiohelferinnen).
Dann stapften wir aus der Stadt heraus, überholten Max. Harald erzählte, dass die Familie von Max im Jahr davor bis nach Santo Domingo de la Calzada gekommen wäre, aber dann hätten einige gemeutert und sie hätten die Pilgertour abbrechen müssen. Da lief Max dieses Jahr eben allein.
Am Ende des Stadtkerns ging es an wunderlichen kleinen Häuschen hoch, die in den Abhang gebaut waren. Wohnten hier die 7 Zwerge? Nein, es waren Bodegas, private Weinkeller. Danach kam ein ödes Industriegebiet, bis Virgen del Camino. Der Ort hat eine moderne Kirche mit sehr eigenwilligen Skulpturen auf der Frontseite. Viele Pilger gingen in das Gotteshaus, um zu beten. Harald und ich konnten auch mal wieder singen.
Dann wieder eine Pilgerwegverzweigung. Wir entschieden uns für gleichmäßigere Etappen, den langweiligeren Weg und das (laut Handbuch) bessere Refugio in Villadangos del Páramo. Das war falsch. Die Strecke war schlimm, das Refugio (vor 10 Jahren gebaut) bröckelig und gerade noch tragbar. Wer kam zur Siestazeit hereinzudröhnen? Richtig, Anne und ihr lauter Begleiter. Ich protestierte von den Kojen her (wie in Calzadilla de los Hermanillos gab es keine Türen). "Shut up!" brüllte er zurück, zog dann aber ab. "Schnatterente und ihre Bande" lagen eine Nische (mit je zwei 3-Stock-Kojen) weiter. Abends gegen 22 Uhr, als alles schon im Bett liegt, wie es sich für Pilger gehört, trampelt auf einmal eine ganze Familie im Dunkeln vorbei und stellt sich als Besuch für "Schnatterente" heraus. Also Licht an, und dann ging das Geplauder um die Wette, bis die Spanier neben uns "Silencio!" brüllten.
Mittags hatten wir in einem Restaurant an der Hauptstraße das beste Menü unserer Pilgerfahrt gegessen. Dann waren wir noch in die Vorabendmesse gegangen.
Die alternative, laut Handbuch schönere Strecke geht über Villar de Mazarife (21,5 km von León). Dort soll das Refugio aber sehr einfach sein: nur Matratzen und kalte Duschen. Die dort übernachtet haben, waren geteilter Meinung. Wer konnte, ging bis Hospital de Órbigo. Da gibt es ein sehr gutes Refugio, berichtete man, aber das ist 35,5 km von León entfernt. Wir wollten einfach nicht noch einmal Blasen bekommen. Ich empfehle aber allen, den Weg nicht über Villadangos del Páramo zu nehmen, sondern die Alternative. Entweder in Villar de Mazarife bleiben, oder, wenn das unakzeptabel erscheint und man noch viel Kraft hat, nach Hospital de Órbigo weiter. Von dort sind es nur 16,5 km nach Astorga.
Hospital de Órbigo bot zunächst eine schöne Bar, und wer kam da zur Tür herein? Es war Horst, der wegen Blasen einen Tag in León pausieren musste und den wir so eingeholt hatten. Das gab ein Hallo! Kurz darauf die für mich schönste Brücke des Camino (schöner noch als die von Puente la Reina). Dahinter gab es wieder eine Verzweigung, und diesmal gingen wir den landschaftlich schöneren Weg, wenn auch über zwei Höhenrücken und mit viel Sonne. Nach der öden Strecke seit León fanden wir die Natur und die Felder wieder herrlich. Unsere Stimmung war entsprechend gut. Laut sangen wir das Pilgerlied "Wer das Elend bauen will" zur Verwunderung der Bauern am Wege. Einmal versperrten uns zwei Hirtenhunde grollend den Weg. Zum Glück waren Horst und drei andere Pilger ganz nahe bei uns, und der Schäfer kam auch herbei. Da zogen sich die Hunde zurück. - Die Aussicht auf den Höhen war wunderbar, denn die Montes de León waren schon sehr nahe. Bald lag auch Astorga zu unseren Füßen. Wie immer war es aber noch ein weiter Weg bis in die Innenstadt. Dank meinem Stadtplan und dank einem Hinweis auf ein neues Refugio liefen wir direkt dorthin. (Das alte Refugio, mit 3-Stock-Betten soll nämlich nicht sehr gemütlich sein.) So kam es, dass wir "Schnatterente und ihre Bande", die den Pilgerweg durch die Innenstadt verfolgt hatten, in der Stadt überholten und vor ihnen an der Anmeldung waren. Sie konnten es nicht fassen und fragten sich, wo und wie wir sie überholt hatten; es war aber ja nicht schlimm. Platz war in dem riesigen Schlafsaal (ich zählte über 70 Betten) satt. Das Ganze in einer hastig umgerüsteten Schule. Das war also das "neue" Refugio. Immerhin wurde es nicht voll belegt, und es waren auch nur 2-Stock-Betten. Schnatterentes Schwester war nach Hause gefahren. Dafür gabelte sie ein mexikanisches Paar auf, das ihre "Bande" ab Astorga ergänzte.
Die Stadt war voll mit Touristen, die einen anglotzten, ansonsten sehr sehenswert. Besonders interessant: die ausgegrabenen Reste der Römerstadt. Als erstes waren wir aber zur Kathedrale gegangen. Eine lange Schlange von Touristen versperrte den Eingang. Uns schwante etwas, weil überall auch Plakate hingen und ein Schild "Kasse" nicht zu übersehen war. Wir versuchten, einen Seiteneingang zu benutzen, aber ein Wächter hielt uns zurück: Dies sei nur ein Ausgang; wenn wir in die Kathedrale wollten, da hinten gebe es Eintrittskarten. Ich sagte ihm freundlich, dass wir Pilger seien und beten wollten. Ja, das täte ihm leid, er war wirklich etwas verlegen, das ginge nun wegen der Ausstellung nicht. Nachdem wir etwas geschimpft haben, sind wir einfach in die Kirche Santa María nebenan gegangen; dort konnte man beten. So ging es ja auch. Schließlich ist Gott überall. -
Hat man erst einmal 200 oder 300 km zusammen, rappelt es nur noch so. Wieder hatten wir eine 100-Kilometer-Marke an diesem Tag überschritten.
Zunächst erreicht man nach 4 km das Dorf Murias de Rechivaldo. Hier gibt es ein kleines, renoviertes Refugio (mit Doppelzimmern!), das sehr zu empfehlen ist. Evtl. sollte man in Astorga nur einkaufen und dann "ein Refugio weiter" gehen, um die unangenehmen Herbergen in der Stadt zu vermeiden. Das nächste Ziel muss trotzdem "Rabanal del Camino" heißen, denn dahinter kommt der Rabanalpass: den sollte man morgens gehen und nicht in der Mittagshitze, und außerdem ist das nächste Refugio in Acebo zu weit entfernt (33,5 km), wenn man nicht in Manjarín (26 km) bleiben will (s.u.). (Horst hat in Murias de Rechivaldo übernachtet und ist nach Manjarín gegangen.)
Auf dieser Etappe hat man eine "Pilgerautobahn" angelegt: einen breiten Weg, mit Steinplatten gepflastert. Links, durch einen Graben getrennt, verläuft die schmale Fahrstraße (sehr wenig Verkehr), rechts, ebenfalls durch einen Graben getrennt, eine breite Piste. Dieser unnötige Landschaftsverbrauch (und die Geldverschwendung) ist viel kritisiert worden. Warum reicht nicht die Piste für die Pilger wie anderswo auch? Wenn wirklich mal ein Trecker kommt, kann man auch mal ausweichen. Wir haben uns dem stummen Protest angeschlossen und sind die Piste gegangen. Sie läuft sich praktisch genauso gut wie die Pilgerautobahn.
Achtung, Tipp: Gleich in Murias de Rechivaldo sich nach rechts dem Sog der Pilgerautobahn (und der vor einem eilenden Pilger) entziehen und der Landstraße, genauer gesagt: der Piste links daneben, nach Castrillo de los Polvazares folgen. Dieser Ort ist sozusagen als Schaustück des "Maragato", wie die Gegend heißt, komplett renoviert und unbedingt sehenswert (Umweg von gut 1 km). Laut DuMont-Handbuch führt ein Feldweg parallel von der Kirche nach links direkt auf die Straßenkreuzung mit dem Camino zu. Wir haben ihn leider nicht gefunden, liefen also zum Dorfeingang zurück und von da aus die Landstraße zur selben Kreuzung.
In den folgenden Dörfern Santa Catalina de Somoza und El Ganso gibt es neue Bars, in El Ganso sogar zwei in unmittelbarer Konkurrenz nebeneinander. Vor zwei Jahren lebten in El Ganso nur noch 7 Personen, wie uns eine von ihnen damals erzählte. Jetzt sind etliche Häuser wiedererrichtet; der Ort hat durch den Jakobsweg einen Neuanfang gehabt. Das gilt auch für sehr viele andere Orte entlang des ganzen Caminos. Der Touristenrummel hat zumindest wirtschaftliche Vorteile für diesen Teil Nordspaniens.
Hinter El Ganso bei einer Straßenkreuzung nicht rechts nach "Rabanal Viejo" gehen, sondern geradeaus nach "Rabanal del Camino". In letzterem Ort gibt es bekanntlich ein privates Refugio (das sog. "spanische") am Marktplatz (am Dorfeingang geradeaus gehen) und ein offizielles (das sog. "englische") an der Kirche (am Dorfeingang nach rechts gehen), je nach der Nationalität der Betreuer benannt. Da ich vor zwei Jahren im spanischen Refugio war, wählte ich diesmal das englische. Wir trafen schon um 12.30 Uhr ein; vor uns praktisch nur "Schnatterente und ihre (neu formierte) Bande". Achtung: der einzige Lebensmittelladen ist gleich am Dorfeingang, wenn man rechts in Richtung englisches Refugio abgebogen ist, auf der linken Seite. Am besten gleich einkaufen, denn die Kirche ist noch 500 m weit weg und die Straße recht steil.
Wie vor zwei Jahren baten die englischen Betreuer darum, Englisch sprechen zu können, na ja... Beide Refugios sind sehr gut und werden vorbildlich geführt. Das englische hat einen riesigen Garten, in dem wir damals trotzdem nicht zelten durften. In diesem Jahr durften es einige, auch Gruppen mit "coches de apoyo" (Versorgungsautos). Nachmittags spielte ein Spanier im Schlafsaal mit der Klampfe auf; das war mal eine willkommene Art der "Ruhestörung". Die Kirche war geöffnet, so dass ich wieder ausgiebig singen konnte. Neben der Kirche liegt ein erstklassiges Gasthaus. Gerade saßen Harald und ich an der Theke, als Anne, die Engländerin, auftauchte. Wir sind wohl sichtlich zusammengezuckt. "Keine Angst" beruhigte sie, "ich bin allein", also ohne ihren lautstarken Begleiter (den wir danach nur noch einmal kurz in Santiago wiedergesehen haben). Dann entschuldigte sie sich für die Störung in Villadangos del Páramo. Ab da waren wir gute Freunde; bis Santiago, wo wir uns von ihr verabschiedeten, lief sie noch parallel mit uns. Das Pilgermenü gab es sogar als Selbstbedienungsbüfett, endlich mit der Fischsuppe, auf die ich schon so lange gelauert hatte. Aber o weh: außer ganzen Muscheln erhielt sie auch reichlich Muschelschrot (den Harald auch in seiner Paella fand)!
In Foncebadón, wie El Ganso ehemals verfallen und inzwischen aufblühend, kurze Rast in der Kirchenruine. Wir dösen gerade etwas, als draußen Geräusche aufkommen. Offenbar wird eine Kuhherde vorbeigetrieben. Urplötzlich steht ein Hund im Eingang und schaut auf uns. Ich bin mir bewusst, dass wir hilflos auf dem Boden sitzen. Wenn er uns jetzt angreift, haben wir nicht einmal die Zeit, uns aufzurappeln. Gottlob hatte ich noch nicht das Buch von Paulo Coelho und seinem Kampf mit dem Dämonenhund in den Ruinen von Foncebadón gelesen. Ich bin ja nicht abergläubisch, aber das hätte mein mulmiges Gefühl sicher verstärkt. Ich fasse den Pilgerstock. Nichts passiert. Nach ein-zwei Sekunden wendet sich der Hund uninteressiert ab und verschwindet so lautlos, wie er gekommen ist. Harald hat wahrscheinlich gar nichts mitbekommen.
Hinter Foncebadón sah ich endlich mal eine Schlange, die unseren Pfad kreuzte. Dann kam wirklich das Cruz de Hierro in Sicht. Wie war es verunstaltet! Man hatte T-Hemden und Krimskrams auf den Balken genagelt; rings herum sah es aus wie nach einem Karnevalsumzug. Die benachbarte Kapelle mit Graffiti vollgeschmiert. Pfui! Hier hat der Tourismus eine ehrwürdige Stätte des Pilgerweges entweiht.
Horst und Heidi haben in Manjarín übernachtet. Ohne Duschen, mit Außentoilette und einem sehr zugigen, hellhörigen Holzhaus soll es mehr ein Erlebnis als ein Vergnügen gewesen sein. Jeder muss übrigens versprechen, morgens nicht vor 7 Uhr aufzustehen, damit der Hahn nicht wach wird und alle aus den Betten schmeißt... :-)
Leider wurde auch dieser Aufenthalt, je später es wurde, immer mehr durch eine nicht abreißende Kette von Spätläufern beeinträchtigt. Erst suchte "Schnatterente" im Schlafsaal nervös nach einem freien Bett, das ihr für ihre fünfköpfige Gruppe noch fehlte. Harald und ich zogen da schon freiwillig in eins der Zelte draußen. Seitdem hatten wir natürlich bei "Schnatterente" einen Stein im Brett. Ob es wirklich zumutbar sei und nachts nicht zu kalt würde, fragte sie uns wiederholt. Nun, wir hofften, wie in Villafranca Montes de Oca auf eine Nacht mit Frischluft, evtl. sogar mit Platz. Aber zuerst füllte sich das gesamte Refugio einschließlich Küche mit Matratzen auf dem Boden, dann auch die Zelte und die Matratzen unter dem Überdach draußen. Zum Schluss, der Herbergsvater zuckte verständnisheischend mit den Achseln, landete auch noch ein niederländisches Radfahrerehepaar bei uns im Zelt. Die beiden waren ganz nett, aber: warum gingen sie, offensichtlich altersmäßig jenseits der 70, denn nicht ins Hotel? Wohl nur, um ca. 35 DM zu sparen, es ist nicht zu fassen. Aufstehen wollten sie (als typische Radfahrer) natürlich erst spät. Dann fing es auch noch ausnahmsweise an zu regnen (hörte aber bald wieder auf). Im Haus tobte das Chaos. Vor Duschen und Toiletten Schlangen, wenn man sich überhaupt bis dahin durch Küche (die mit dem Aufenthaltsraum identisch war) an Kochenden, Essenden und Schlafenden vorbei durchgeschlagen hatte. Die Nacht wurde leidlich, Meneer schnarchte genauso wie ich...
Und wieder übersprangen wir an diesem Tag eine 100-km-Grenze. Dieser Etappe hatte ich mit Bedenken entgegengesehen. Würden wir uns wieder die Füße wund laufen? Nun, der Vorteil war, dass ich die Strecke schon kannte und daher alle Teilziele auswendig wusste. Es half auch Harald, wenn ich immer genau ansagen konnte, wie weit wir waren. Sogar die 2 km Umweg, die der Jakobsweg vor Ponferrada im Vergleich zur Landstraße macht, ließen wir nicht aus: eine schöne alte Brücke (und eine neue Bar, die genau zur richtigen Zeit auftauchte) war der Lohn. Der Durchmarsch durch Ponferrada ist sonst ätzend (trotz malerischer Templerburg). Wie man vom Cebreiropass aus sehen kann, liegt eine schweflige Dunstwolke über der Stadt. Abraumhalden begleiten den Pilgerweg ein Stück. Naja, von irgendwas müssen die Leute ja leben...
Man kann diese Etappe entschärfen, indem man nur bis Cacabelos, d.h. 8 km weniger, geht. Dort gibt es (hinter der eigentlichen Stadt, jenseits der alten Brücke an der Pilgerkirche) ein neues Refugio, das nicht in meinem Handbuch verzeichnet war und auf das auch nicht am Ort hingewiesen wird. (Heidi hat dort übernachtet.) Die letzten 8 km hinter Cacabelos fielen uns in der Hitze wieder sehr schwer, zumal es auch den größten Teil die Straße entlang ging. Dann rückten wir in Villafranca del Bierzo ein, müde, aber mit heilen Füßen.
Nach langem Überlegen hatte ich mich fürs Refugio entschieden, also nicht für das vorhandene Zeltlager und auch nicht für Jatos Herberge. Das recht neue Refugio ist sehr angenehm in allem. In unserem 8-Bett-Zimmer landete nur 1 zusätzliche Matratze. Jatos Familie hat inzwischen ein großes Haus wieder aufgebaut, eine bemerkenswerte Leistung. Das angebaute Pilgerlager haben wir nicht einsehen können, es soll (laut Horst und Heidi) aber annehmbar gewesen sein. Vergebens suchte ich Jato selbst, der mich vor zwei Jahren mit einer Umarmung begrüßt hatte. Es konnte doch nicht der alte Mann hinter der Theke sein? Ich habe es nicht herausgefunden.
Wieder hatten wir Glück, dass die alte Pilgerkirche geöffnet war. Beten war allerdings nur eingeschränkt möglich, denn jeder Eintretende bekam sofort eine kostenlose Führung durch die Aufsichtshabende. Mir gingen die Touristen mal wieder auf den Geist. Ich stellte mich mitten in den Gang vor den Altar und fing an, laut zu singen. Daraufhin ging man wenigstens zum Flüstern über.
Achtung: wir haben keinen nahen Lebensmittelladen gefunden. Wir sind vor der Festung rechtwinklig abbiegend steil nach unten rechts in die Altstadt gegangen, geradeaus über den Marktplatz und immer weiter geradeaus bis zu einem kleinen Park; erst dort (1 km) fanden wir ein Geschäft.
Dank der Tatsache, dass wir in der Meseta einen Tag eingespart hatten, konnten wir die anstrengendste Etappe mit dem Aufstieg auf den Cebreiropass aufteilen und dabei noch den Umweg über Pradela machen. Doch zunächst mussten wir den Abzweig dahin finden.
In Villafranca del Bierzo geht man zunächst zur Festung, dann rechts ab, den gelben Pfeilen folgend. Man überquert eine Straße, erreicht ein Geländer mit einer Treppe, geht diese hinunter und dann abwärts lange Zeit die alte Hauptstraße, von malerischen Bauten umsäumt, parallel zum Fluss, entlang. Der Pilgerweg knickt auf einmal rechtwinklig links ab und erreicht eine mittelalterliche Brücke. Direkt hinter dieser geht der Talweg nach Ambasmestas (und Cebreiro) mit der unzumutbaren Autobahnbaustelle geradeaus weiter, der Umweg über Pradela hingegen sofort sehr steil rechts zwischen den Häusern hoch.
Man kann diesen Umweg und damit auch eine Zweiteilung des Cebreiroaufstieges nur empfehlen, obwohl die 500 Höhenmeter nach Pradela aufwärts und danach ebenfalls 500 m sehr steil wieder hinunter dem Cebreiroaufstieg an Schwierigkeit kaum nachstehen. Aber: über weite Strecken genießt man einen wunderbaren Panoramablick auf die Berge. Von fern winkt schon der Cebreiropass, obwohl der Ort nur auszumachen ist, wenn man weiß, wo er liegt. Danach geht es durch einen Wald aus Esskastanienbäumen, auch einmalig. Umgekehrt wird der Talweg durch einen Autobahnbau verwüstet, Staub, Lärm und Verkehr belasten die Pilger sehr. Bis hinter Ambasmestas wird der "Fortschritt" greifbar: man geht Reste der alten Landstraße, der N VIa, sonst meistens die neue Schnellstraße N VI entlang, die jetzt wiederum durch die gigantischen Konstruktionen der neuen Autobahn überspannt wird.
Der Höhenweg erreicht Pradela nicht ganz. Unmmitelbar vor dem Ort geht es links eine kleine Asphaltstraße hinab, deren Serpentinen der Pilgerweg noch steiler abkürzt. Wir sind allerdings nicht die letzten 50 Höhenmeter den Pfeilen hinunter nach Trabadelo gefolgt, sondern lieber auf dem Asphaltsträßchen weitergegangen, bis dieses nach 1 km hinter Trabadelo in die Talstraße einmündet. Vor Ambasmestas gerät man nun doch in Baulärm. Achtung: Vor La Portela kommt rechts eine Fernfahrergaststätte mit ausnahmsweise zu Pilgern unfreundlichem Personal. Lieber links an der Straße bleiben und 100 m weiter in der Bar "El Peregrino" einkehren. Dort herrscht die gewohnte pilgerfreundliche, familiäre Atmosphäre.
Wir wollten im Refugio von Vega de Valcarce übernachten. Am Weg saß Max, ziemlich erschöpft. Da er aber seinen Rucksack von Jato zum Cebreiro hatte hochtransportieren lassen, musste er weiter. Diese Begegnung war zugleich der Abschied von ihm.
Eine private Pension lockte mit Betten zu 1000 P. Ich schaute mir die Unterkunft an (Harald wollte auf jeden Fall ins Refugio). Nun, für 1000 P. gab es einen Schlafsaal mit 2-Stock-Betten, etwas besseres Refugio-Niveau. Die Einzelzimmer zu 2000 P. waren angeblich belegt (glaubte ich aber nicht). Ich konnte dann noch ein Doppelzimmer für 3.000 P bei Einzelbelegung, 4.000 P. bei Doppelbelegung haben. Da Harald nicht mitmachte und mir 3.000 P. für eine Einzelbelegung zu viel waren, ging es zum Refugio.
Hm, ziemlich heruntergekommen. Eines der schlechtesten Refugios, die wir gesehen haben. Keine Aufsicht, aber ein Hinweis: Vorsicht beim Duschen, das Wasser läuft sonst in den Schlafsaal. Na fein.
Nachtrag von Juni 2003:
Inzwischen berichten Pilger, dass es in diesem Ort ein neues
gutes Refugio gibt.
Vor einem Fenster mit kaputtem Glas (Frischluft!) modernde Matratzen; erst mal austauschen. Duschen, und dann Siesta. Kaum liegen wir flach, stürmt Schnatterentes Bande herein, wuselt herum und schreit sich Zahl und Zustand der Duschen und Toiletten zu. Mir langt es.
Ich steige aus dem Bett und schaue Harald an, er schaut zurück. Wir wollen hier weg. 20 Minuten später haben wir gepackt und sind wieder unterwegs. 16.30 Uhr in glühender Hitze 3 Stunden zum Cebreiro hoch? Wir müssen doch ein Rad ab haben! Der liebe Gott hat ein Einsehen mit unserer Dummheit (und Nörgeligkeit): Mir fällt ein, dass Heidi und Horst von einem "tibetanischen" Refugio in Ruitelán, 5 km voraus, gesprochen haben. Nichts darüber im Handbuch. Mal die Augen auf machen. Das kleine, private Refugio ("tibetanisch" war nur sein Name) liegt direkt an der Straße, ist gar nicht zu übersehen. Zwei Schlafräume mit je 8 Betten, wohl sehr eng, aber sauber. Sehr nettes Hospitaleropaar (Geschwister). Übernachtung 500 P., Abendessen 900 P, Frühstück 300 P. Heidi und Horst freuen sich, dass wir auch gekommen sind. Wir bleiben da. Insgesamt war es in Ruitelán ein angenehmer Aufenthalt, wenn man von einigen Umständen absieht: Nachdem die 16 Betten vergeben waren, öffnete der Herbergsleiter eine Dachluke, und - hups! - oben waren noch 15 Matratzen, die auch noch alle belegt wurden, und das, wie uns erst jetzt auffiel, bei einem einzigen Zimmer, das 1 Dusche und 1 Toilette enthielt (die von den Besitzern mitbenutzt wurden), also für insgesamt 33 Personen. Nun, alle waren geduldig und nett zueinander und standen unentwegt brav Schlange. In dem winzigen Hof noch eine alte Behelfstoilette, aber bitte Wasser mitnehmen: der Spülbehälter oben brauchte ca. eine Viertelstunde, um sich zu füllen.
Am Rande noch ein lustiges Erlebnis: wir saßen vor der benachbarten Bar am Straßenrand. Auf einmal kommt ein Teerwagen und spritzt seine Ladung die Straße entlang, uns fast auf die Füße. Dröhnend dahinter: Lastwagen mit Split, eine Asphaltmaschine, eine Dampfwalze. So schnell, wie wir in die Bar flüchteten, so schnell war deren Besitzer draußen, bekam den Mund nicht wieder zu und rettete erst einmal Tische und Stühle. Das Dorf wurde offensichtlich von dieser Verschönerungsaktion der Hauptstraße gänzlich überrascht. Dann holte der Gastwirt schnell Bier für die Arbeiter: so bekam er eine schöne Abschlusskante direkt vor seiner Haustür. Aber alle waren wir vorerst in den Häusern gefangen: wer latscht schon mit seinen Ausgehsandalen durch weichen Teer? Erst einige Bier später hüpften wir mit Riesensätzen in die Freiheit. Meine Sandalen haben noch heute Teerspuren...
Abends genossen wir erneut sehr lange den Ausblick und stiegen auch noch eine Anhöhe oberhalb des Aussichtspunktes mit einem Kreuz darauf hoch. Von dort oben hatte man beinahe eine komplette Rundumsicht. Der Cebreiro will zelebriert werden. Die Kirche des Ortes (um die sich eine bekannte Legende rankt) beeindruckt in ihrer Schlichtheit, nach all den barocken gold- und zierratüberladenen Gotteshäusern, die wir bisher gesehen hatten, sehr wohltuend. Daneben ein Gasthaus, sowohl zur Unterkunft als auch zum Essen zu empfehlen.
Das Refugio war mal neu und modern gewesen. Wir erhielten als erste in der Reihe (etwas Stirnrunzeln: Was, ihr seid nur von Ruitelán hierher? Klar, wir sind Pilger und keine Sportler) eines der besseren Zimmer, mit nur 8 Betten, aber: nur ein rucksackbreiter Gang dazwischen! Wenn nur einer der vier Pilger, die zur Tür hin schliefen, sich die Füße versorgte, mussten alle anderen über ihn hinwegsteigen. Gleichzeitig aufzustehen und zu packen war gar nicht drin. Mit uns auf dem Zimmer war u.a. die Dänin Birgit (Name geändert), mit der wir noch am Strand von Finisterre Abschied feiern sollten.
Uli, der deutsche Freizeithospitalero, bestägte den Bericht von San Bol: einen Tag vorher war tatsächlich ein Pilger mit 3 Dromedaren da gewesen. Ansonsten beklagte er die fehlenden Geldmittel (vgl. das Kapitel "Allgemeine Informationen", Punkt "Das Problem der Refugios"): überall saß der Schimmelpilz im Gebäude. Wir hätten noch Glück, heute sei es ein ruhiger Tag, gestern habe man über 200 Leute unterbringen müssen; die Rucksäcke hätten zur Öffnungszeit bis unten auf die Straße gestanden. In diesem Jahr sei es noch schlimmer als 1999. Die Touristen überschwemmten alles. Er schloss mit dem pessimistischen Satz: Was die Pilgeratmosphäre angeht, ist der Camino kaputt.
In Triacastela waren wir mit die ersten im Refugio, zogen aber wegen unzumutbarer Überfüllung bald wieder aus (siehe "Allgemeine Informationen", Punkt "Das Problem der Refugios"). An der Kirche fanden wir ein Schild: "Der Camino ist kein Schnelligkeitswettbewerb, sondern eine Übung in Menschlichkeit." Amen! In Galicien gibt es reichlich private Unterkünfte. In den ersten beiden Bares verlangte man 4.000 P. für ein Doppelzimmer (mit Etagenbad), im dritten nur 3.000 P. Ich war etwas skeptisch, aber das stellte sich als unbegründet heraus: Das Zimmer war ordentlich, das Etagenbad auch. Wir haben es dort gut getroffen. Leider wurde Harald ab dem Nachmittag von Kopfschmerzen gepeinigt.
Morgens war es nebelig und kalt. Der Weg nach Sarria war die letzte Etappe, die ich noch nicht kannte, weil wir sie vor zwei Jahren aus Zeitnot mit den Autos zurückgelegt hatten. Wir gingen, wie im Plan vorgesehen, nicht über Samos (dessen Refugio allgemein gelobt wurde), sondern über Calvor. Eine landschaftlich schöne Strecke, in sanftem Auf und Ab durch kleine Bauerndörfer, über Brückchen und an Wäldern und vielen kleinen Bächen vorbei. Tatsächlich glaubte ich, sie doch wieder zu erkennen, denn sie ähnelt ungemein der folgenden Etappe von Sarria nach Portomarín.
In Sarria war "Markttag", also ein Sonntag, an dem auch die Geschäfte geöffnet sind. Eine Gruppe von Pfadfindern aus Italien begrüßte Heidi, die wir in einer Bar getroffen hatten, mit Hallo. Sie hatten eigene Zelte dabei und nahmen so den anderen Pilgern keine Plätze weg. Ansonsten waren sie "echte" Pilger. Sie liefen bis Santiago mit uns parallel, und bald galten auch wir als gute Bekannte. Harald kann etwas Italienisch, und mein Spanisch verstanden sie auch.
Abends kamen Anne und ein englisches Ehepaar, das wir auch schon länger kannten; mit den beiden hatten wir z.B. in Ruitelán vor der Bar gesessen, als wir fast geteert wurden... Sie hatten bislang kein Bett bekommen. In einem benachbarten Hotel fehlte warmes Wasser, eine andere Hospedería wollte angeblich 13.000 P. (Evtl. ein Hörfehler für 3.000: "trece" gegenüber "tres", denn alle drei konnten kein Wort Spanisch.) Der Ehemann war am Ende seiner Kräfte und wankte nur noch hin und her. Anne lief dann noch einmal resolut zur Anmeldung des Refugios und verhandelte um Matratzenplätze. Es ging dann wie bei der wunderbaren Brotvermehrung in der Bibel: als man ernsthaft in den Schlafsälen noch einmal nachschaute, fanden sich drei leere Betten, auf die nur liebe Nachbarn (siehe das Reservierungschaos der Gruppe, wie oben geschildert) einige ihrer Sachen abgelegt hatten.
Nachts dachte ich, einer besonders ungeschickten "Knistertüte" heimleuchten zu müssen: es knisterte nicht nur, es fielen auch Sachen lautstark auf den Fußboden: es war eine Katze, die durch die offene Außentür eingedrungen war und in den Tüten nach Nahrungsmitteln suchte.
Das Refugio in Palas de Rei war das luxuriöseste, das wir auf dem Jakobsweg gesehen haben: Ein Schlafsaal mit drei Nischen von zweimal 4 und einmal 2 Betten, dazu ein eigenes Badezimmer! Kaum zu glauben. Einzige Einschränkung: gerade die Duschkabinenkonstruktionen der neusten Refugios (Palas de Rei, Pedrouzo und Finisterre) waren sehr eigentümlich. Ohne Duschvorhänge, statt dessen an der Kranseite nur ein kleiner Mauervorsprung. Der Wasserstrahl zwang einen aber gerade an die andere Seite, wollte man nass werden. Man bot sich so schutz- und hüllenlos dem Betrachter dar und das, obwohl in allen drei Herbergen die Duschen nicht nach Geschlechtern getrennt waren. (Von meinem Bett aus hätte ich sogar bei offener Badezimmertür - und die wird ja von allen gern offen gelassen - direkt in eine Duschkabine hineinsehen können. Ich habe dann das Kopfende an die andere Seite verlegt.) Es lief darauf hinaus, dass immer eine Geschlechtsgenossin vor der Badezimmertür "Wache stand", wenn eine Frau unter der Dusche war. Was haben sich die Konstrukteure nur dabei gedacht?
In Palas de Rei kamen auch Spätläufer unter, aber das Haus war so groß, dass nur ein Teil der Flure und sonstigen Räume mit Matratzen belegt wurde. Auch bei Duschen und Toiletten gab es keine Engpässe.
An diesem Tag fassten Harald und ich auch einen wichtigen Entschluss: Erstens, nach Finisterre zu Fuß zu laufen. Zweitens, da Harald keinen so zentralen Wert auf die Pilgermesse am Sonntag legte, von Pedrouzo aus schon am Freitag nach Santiago de Compostela zu gehen (und damit nicht am Monte do Gozo zu übernachten). Dann hatten wir den Tag herausgeholt, der uns noch für Finisterre fehlte. Sonst hätten wir evtl. nach der Pilgermesse noch am selben Nachmittag bis Negreira laufen müssen. So war alles zeitlich entkrampft. Die Mammutetappen über Arzúa und Monte do Gozo waren vorher schon überflüssig geworden, da wir zu Anfang auf den Besuch von San Millán de Cogolla verzichtet hatten. Wir würden sowohl in Santiago als auch in Finisterre genügend viel Zeit haben. Diese Aussichten stimmten uns heiter, und wir priesen uns noch einmal glücklich, dass unsere Füße jetzt so widerstandsfähig geworden waren und nicht mehr brannten oder Druckstellen bekamen. (Nachts gab es allerdings oft "Phantomschmerzen", wie ich das nannte: Schmerzen, die nach einem leichten Druck mit den Fingern sofort verschwanden. Die Füße schienen den Schmerz zu "träumen".)
Nähert man sich Melide, so geht es erst durch ein Industrieviertel, und man denkt, man hat den Stadtrand schon erreicht. Wie so oft aber, macht der Pilgerweg vor einer größeren Stadt dann noch einen unvermuteten Bogen (diesmal nach links), um noch über eine schöne alte Brücke zu führen. Diese gehört noch gar nicht zu Melide, sondern zu dem Dorf Furelos, unmittelbar davor. Furelos war mir in bester Erinnerung, denn gleich hinter der Brücke kommt man an eine Kirche mit einem besonderen Kruzifix: auf diesem weist eine Hand Jesu zu Boden, was manche Deutung erfährt. Hier hatte uns vor zwei Jahren der Pfarrer überschwänglich begrüßt und mit uns gesungen. Also betraten wir erwartungsvoll die Kirche. Tatsächlich kam der Pfarrer gleich auf uns zu, aber irgendwie war er alt und müde geworden. Nur sein Englisch wollte er gleich an uns ausprobieren, aber wie üblich antwortete ich auf Spanisch, dass wir Deutsche seien und keine Engländer. Ein indianisch aussehender Pfarrhelfer (wahrscheinlich aus Südamerika) kam dazu und fand das bemerkenswert, dass man mit Deutschen gleich Spanisch reden kann. Das war's dann auch schon. Wir sprachen unser Gebet und zogen weiter. Wie so oft, kann man glückliche Momente der Vergangenheit nicht auf Abruf wiederholen.
In Melide gibt's ein bekanntes Restaurant "Ezequiel" mit angeblich dem besten Tintenfisch Spaniens. Wir konnten nicht davon profitieren, denn bei unserem Marsch durch Melide war es noch nicht Mittag. Heidi sagte später, das Restaurant habe keinen sauberen Eindruck auf sie gemacht und das Meeresgetier habe abschreckend ausgesehen, so dass sie gleich wieder gegangen sei. So sind die Eindrücke verschieden.
In der Ortschaft Boente hinter Melide steht wieder eine kleine Kirche mit interessantem Inneren. Wie vor zwei Jahren wurden wir regelrecht von einem Mann, der auf Pilger wartete, hineingelockt. Er war ganz enttäuscht, dass wir uns nur ein wenig umschauen und vor allem beten wollten. So wurde er seinen Touristenvortrag nicht los, mit dem er Spenden sammelte. Nun, wir haben auch so etwas auf den Sammelteller gelegt.
200 m vor dem Refugio in Ribadiso liegt eine neue Bar. Nach der Siesta auf dem Rasen hinter dem Refugio verbrachten wir den Rest des Nachmittags in der Bar (Heidi gesellte sich zu uns) und schauten den vorbeiziehenden Pilgerkolonnen zu. Die italienischen Pfadfinder rückten an, 41 Leute, eigentlich zwei Gruppen aus verschiedenen Städten, die sich aber unterwegs zusammengetan hatten. Sie wussten wohl nicht, dass die guten Anlagen des Refugios ganz nah waren, denn alle gingen der Reihe nach, wie sie eintrafen, erst einmal in der Bar auf die Toilette. Nur etwa die Häfte bestellte sich eine Limonade oder sonst ein Getränk. Das war der Besitzerin doch zu viel, und sie protestierte lautstark. Einer der beiden Gruppenleiter gab ebenso zurück. Dann legte sich der Zorn auch wieder: den immer freundlichen, lachenden Jugendlichen, die alle einen sehr guten Eindruck machten, konnte keiner lange böse sein. - In der Bar gab es wohl Bocadillos, aber kein warmes Essen.
Die Vernunft setzte sich durch: Als wir in Pedrouzo waren, brannte
die Sonne, und weitere 16,5 km hätten uns fix und fertig gemacht.
Na, dann morgen eben ein etwas weiterer Weg bis Santiago als vom
Monte do Gozo aus.
So findet man die Bar:
Nachtrag von 2016:
Zum Vergleich:
Nachmittags erkundete ich die Innenstadt, wie üblich auf der
Suche nach einem Telefon, um zu Hause anzurufen, und nach einer
geeigneten Gaststätte für das abendliche Pilgermenü.
Nun, auch in Santiago gibt es die schöne Sitte wie in León,
das Menüangebot nur mittags gelten zu lassen, es aber abends
noch im Fenster zu haben. Plötzlich traf ich auf "Schnatterente".
Sie fiel mir ohne Umstände um den Hals, war glücklich, dass
sie ihre "Bande" erfolgreich nach Santiago gescheucht hatte. Nun sagte
sie "Auf Wiedersehen". Ich fand es rührend. Sie lobte mich noch einmal
wegen meiner Spanischkenntnisse (die sie überschätzte), und
wir schieden als gute Freunde. Später löste sich Harald aus
seiner Siesta. Gemeinsam holten wir uns im Pilgerbüro die
"Compostela". Die Helfer dort hatten wenig zu tun. "Von Saint-Jean?
Und alles zu Fuß?" Wir nickten stolz. Alle schauten uns
beifällig an, mussten sie doch sicher oft mit den 100-km-Touristen
hässliche Diskussionen führen. Bei uns war alles sonnenklar und
echt. Ein paar Häuser weiter gab es Fotokopien für
10 Peseten.
Um 18.45 Uhr standen wir vor einem grünen Garagentor. "Wir
sind 4 und 5" sagte ich zu den andern Pilgern, die dort schon warteten.
Bald kamen weitere, darunter ein Brasilianer, der das Ganze gleich
in eine köstliche Komödie verwandelte. Worum ging es?
Nun, der Parador, das Luxushotel an der Kathedrale, war früher
ein Pilgerhospiz und hat bis heute die Pflicht, 10 Pilger morgens,
mittags und abends gratis zu beköstigen (9, 12 und 19 Uhr).
Dazu muss man sich durch die Kopie seiner Compostela ausweisen;
der Tag der Ankunft darf nicht länger als zwei Tage zurückliegen.
Diesen Spaß mussten wir uns einfach gönnen. Am Ende waren wir
5 Deutsche, 2 Brasilianer, 1 Mexikanerin und 1 Französin
(durch ein Missverständnis 1 Pilger zu wenig). Also kein Spanier.
Die Spanier interessiert nur eins: Zur Kathedrale, und dann ist
Feierabend. Wir sahen ernsthaft, wie einige die Kathedrale erreichten,
sich umdrehten, den Rucksack abwarfen und sich mit einem Taxi abtransportieren
ließen. Gelaufen wurde keinen Meter mehr.
Abschiedsabendessen mit
Heidi, die mit dem Bus noch nach Finisterre gefahren ist. Mit ihr bleibe
ich über das Internet in Verbindung.
Hinweis:
September 2003 und Juni 2005: Ferner: Zu Fuß von Fisterra nach Muxía (Anfang
September 2003)
Die praktischen Hinweise (Unterkünfte, Umweg über Pino do Val/Pino de Vale, usw.) in dem folgenden
Bericht haben nur noch
historischen Wert und sind in der Regel überholt. Man beachte die vorstehend genannten
aktuelleren Berichte.
Zum einen fehlte uns jetzt die Anwesenheit anderer Pilger. Es war
nicht selbstverständlich, unterwegs zu sein; wir waren eher
komisch aussehende Landstreicher. Zu dieser psychischen Unsicherheit
kam die dauernde Angst vor den Hunden, die auf dieser Strecke Pilger
nicht gewohnt sind und einen wirklich an jedem Bauernhaus anblaffen.
Ferner war die Strecke für mich unbekannt, und das nach vielen
Kilometern, auf denen ich fast jeden Baum wiedererkannt hatte. Zudem
lieferten die Handbücher nur wenige Informationen; der im
Pilgerbüro verteilte Handzettel enthielt klare Fehler bei den
Entfernungsangaben, und zu allem Überfluss hatten sehr viele der
kleinen Dörfer kein Ortsschild, so dass man nicht wusste, wo man
war. Alles das summierte sich zu einem Unsicherheitsgefühl, das
einen im Hintergrund drückte.
Immer wieder hielt ich mir vor: In Negreira gibt's ein neues
Refugio, in Maroñas wartet die Dorfschule; Cée kenne ich schon,
da wird halt ein Privatquartier gesucht, und in Fisterra, der
Stadt am Kap Finisterre, gibt es ebenfalls ein neues Refugio. Was sollte
da passieren?
Nach einem guten Frühstück im Stadtpark von Santiago ging
es durch die Vorstädte nach Westen. Wir haben in fast allen
Städten immer am Tag vorher schon in Erfahrung gebracht, wo der
Pilgerweg weitergeht. Außerdem half zuerst noch mein Stadtplan.
Die Wegkennzeichnung bis Finisterre ist nicht so lückenlos wie
vor Santiago. Man muss höllisch aufpassen, nicht an einer
unvermuteten Abzweigung von der Straße vorbeizulaufen. Zwei Mal
habe ich eine solche übersehen, ein Mal Harald. An diesem
und dem nächsten Tag ging es lange durch dichte Wälder,
meist von Eukalyptus. Das war zwar ein schöner Weg, aber er
kostete auch viel Zeit. Einmal wollten wir einfach nicht glauben, in
drei Stunden nur 7,5 km geschafft zu haben.
Vor Negreira überraschte uns Puente Maceira, ein
Erholungsort mit sehr schöner alter Brücke, dazu ein
breiter Fluss mit Felseninseln, eine Staustufe mit schäumendem
Wasser und Mühlen rechts und links. Dann kam Negreira in Sicht.
Die Pfeile führten uns hinein, im Ortskern scharf nach links,
an einem Bauernmarkt vorbei und wieder aus der Stadt heraus. Nanu?
Wo war das neue Refugio, das laut Outdoor-Handbuch 1999 eröffnet
werden sollte? Nach einem vagen Hinweis erklimmen wir die gegenüberliegende
Höhe mit Kirche und Friedhof (schon 1 km außerhalb der
Stadt). Ein großer Hund kommt auf uns zu, bellt wütend und
setzt nach, als ich zurückweiche. Die Bäuerin kommt gottlob
und scheucht ihn zurück. Das Refugio ist da unten, sagt sie,
aber sie wüsste nicht, ob es schon geöffnet sei. Na,
machte nichts, wir konnten ja warten, bis man aufmachte. Als wir
endlich das Gebäude gefunden haben, klappt uns der Unterkiefer
herunter: Es ist nicht eröffnet, die gesamte
Inneninstallation fehlt noch. Auch kein Wasser.
Knirschend zogen wir den ganzen Weg in die Stadt zurück.
Beim Rathaus anzurufen, wie das Outdoor-Handbuch riet, war am Sonntag
nicht die Lösung. Nur das DuMont-Handbuch gibt einen Hinweis
auf eine einfache Unterkunft beim Sportzentrum. Das haben wir
übersehen. (Das Sportzentrum liegt nach Auskunft anderer Pilger
weit außerhalb. Es gibt dort eine Notunterkunft, aber zwei
Pilgerinnen wurden dort von Gruppen Jugendlicher belästigt.)
Also ein Privatquartier suchen. Die beste Methode ist: in die
nächste Bar und fragen. Dank der üblichen Hilfsbereitschaft
der Spanier kommt man dann schnell zum Erfolg. So auch in Negreira.
Die Hospedaje lag direkt an der Kreuzung im Ortszentrum.
Ja, das neue Refugio, sagt unsere Wirtin. Keiner wüsste,
warum seit einem Jahr nur noch die Installationen fehlten und es
nicht weiterginge. Na toll. -
Doppelzimmer mit eigenem Bad 4.000 P., angemessen. Obwohl
Restaurant, keine Speisekarte ausgehängt. Also etwas die
Straße hoch in der Bar "Churrasco" (mit Preisaushang) zu Abend gegessen.
Negreira ist ein merkwürdiger Ort. Das alte Zentrum liegt im
Tal, unterhalb von Kirche und Friedhof. Aber die neue Stadt ist um
ein Vielfaches größer, zieht sich mit hässlichen
mehrstöckigen Wohn- und Geschäftsblöcken entlang der
Durchgangsstraße oberhalb des alten Zentrums hin. Nun, wir
wollten da ja nicht Wurzeln schlagen.
Maroñas, unser Ziel, wurde zum Albtraum. "Übernachtung
in der alten Dorfschule" klingt doch gar nicht schlecht. Naiv hatte
ich mich bei der Planung gefragt, ob sie denn zur Schulzeit für
Pilger wohl zugänglich sei. Sie war es, ha ha.
Zunächst hatten wir das Problem, ein Dorf zu erreichen, das
laut einem Grenzstein Maroñas sein musste, das Refugio aber
nicht zu finden. Auch die gelben Pfeile waren hinter dem Dorf weg.
Hatten wir uns verlaufen? Also zurück und gesucht, nichts.
Wegen der Mittagshitze kein Mensch auf der Straße. Doch, da, eine
alte Frau. Ja, das sei der Pilgerweg, zum Refugio immer geradeaus
an der Kirche vorbei. Uns dämmert es: wir sind noch nicht im richtigen
Ortsteil, das Zentrum kommt noch. Die alte Frau freut sich über unseren
Dank. Sie sagt, sie fände es prima, dass man sich mit von so weither
gereisten Ausländern doch verständigen könne. Wir
nehmen's als Kompliment. Zwar hat Harald immer mir das Reden
überlassen, aber dank seiner Italienischkenntnisse hat er sehr
viel Spanisch verstanden, manchmal schneller als ich.
Also wieder den Weg weiter und zum nächsten Ort. Das musste
nun wirklich Maroñas sein (wie üblich, kein Ortsschild),
aber keine Kirche in Sicht. Etwas weiter ein neuer Pilgerrastplatz,
aber noch ohne Tische und Bänke. Und auch der Brunnen noch
ohne Wasseranschluss :-( Was zum Jubeljahr 1999 nicht fertig geworden ist,
bleibt wohl liegen, siehe Negreira. Eine Bar soll neben dem Refugio sein,
wo es den Schlüssel gibt. Keine Bar zu sehen. Wir gehen weiter.
Nach 1 km kommt die Fernstraße - und eine Bar in Sicht. Also
waren wir in einem weiteren Ortsteil von Maroñas gewesen,
aber immer noch nicht in dem richtigen. Ein Hinweis zurück auf
eine Kirche, wir haben sie nicht gesehen. Sehr erschöpft in die
Bar. Dort ist man zurückhaltend. Es gibt Bocadillos und Getränke,
aber nicht die gewohnte Herzlichkeit. Ja, die Schule sei etwas weiter in
der nächsten Kurve. Einen Schlüssel brauchten wir nicht, sie
sei auf.
20 m weiter, bislang durch einen großen Baum verdeckt gewesen,
ist gleich die nächste Bar, größer und
schöner. Deshalb also die gedrückte Stimmung bei der
Konkurrenz davor. Da kommt auch die Schule in Sicht. Von außen
sieht sie wie eine Ruine aus. Da wird sicher kein Unterricht mehr
gegeben. Im Geist streichen wir die Duschen. Na, für ein Mal,
was soll's? Der kleine Anbau ist wohl die Toilette, hm, war mal
die Toilette! Alles von Unkraut überwuchert. Die Tür
hängt in Angeln, die irgendwann einmal gewaltsam aus
der Mauer getreten worden sind. Nein, einen Schlüssel braucht
man hier wirklich nicht mehr: das ganze Haus ist eine Ruine!
Innen, unter dem teils verfaulten Dach, nur noch Reste des
ehemaligen Mobilars. Kleine Schultische zusammengeschoben, da haben
Pilger drauf geschlafen. "Wegen der Ratten auf den Tischen"
sagt Harald. Jetzt reicht mir's! Ich mache ja alles mit, aber Ratten,
die mich nachts besuchen...
Entschlossen gehe ich zurück zu der neuen Bar. Wo kann man hier irgendwie
unterkommen? Die Schule ist wohl nichts, meint die Wirtin
verständnisvoll. Also, beschreibt sie sehr hilfsbereit; entweder
10 km den Camino geradeaus und dann 3 km ab nach Picota, oder hier
5 km die Fernstraße weiter nach Pino do Val, aber das
ist vom Camino weg. Ist mir egal, wir sind ziemlich fertig und
schaffen kaum noch 5 km. Gut, dass ich meine Landkarten dabei habe;
sonst wüsste ich nicht, wo dieses Pino do Val läge. -
Harald, der in der Ruine gewartet hat,
reißt sich zusammen: "Komm, das packen wir noch."
Mühsam geht es die Fernstraße entlang.
Sie ist schmal und hat keine Seitenstreifen. Kaum, dass hier zwei
Lastwagen nebeneinander Platz haben. So sind wir immer in Gefahr,
wenn sich von vorn und von hinten gleichzeitig ein Fahrzeug
nähert,
besonders vor Kurven und Bodenwellen. Die Lastwagenfahrer haben
Verständnis; einige bedanken sich sogar, wenn wir an die Seite
auf den Grabenrand ausweichen.
Aus 5 km werden 7 km (Autofahrer unterschätzen immer alle
Entfernungen). Endlich der Ort. Rein in die nächste Bar.
Aha, Zimmer gibt es an der großen Kreuzung in der Bar rechts,
Richtung Picota. - Dort will uns der Chef nicht,
angeblich alles besetzt. Betrunkene Touristen gaffen uns an. Ein
junger Angestellter (sein Sohn?) nimmt uns beiseite. Schaffen wir noch
5 km bis Picota? Nein. Gut, dann (hinter der vorgehaltenen Hand)
einfach 4 Häuser weiter, bei der Konkurrenz. -
Also etwa zweihundert Meter weiter die Straße hoch in
Richtung Picota. Links eine Bäckerei (Brot war ausverkauft).
Rechts eine Bar. Dort sind wir gut untergekommen. Die Wirtin
kennt ein deutsches Wort: "Ssnissel" (Schnitzel).
Man versorgt uns gut und preiswert,
und das neu möblierte Doppelzimmer kostet auch nur 3.000 P.
An der Decke allerdings nur eine nackte Glühbirne, wo ein
Plastiklampenschirm wahrscheinlich nur 2,50 DM kostet. Aber dafür
scheinen Wirt und Kunden kein Auge zu haben. Hier übernachten
hauptsächlich Fernfahrer.
Pino do Val liegt an der Kreuzung zweier großer Fernstraßen,
die, im Gegensatz zu dem Ort selbst, auf mancher Karte verzeichnet ist.
Am andern Tag gehen wir einfach wieder nach Norden, im spitzen Winkel
zurück, zunächst nach Picota. Es war ein Umweg von etwa
10 Kilometern, und das die viel befahrenen schmalen Fernstraßen
entlang.
Die Dorfschulruine von Maroñas ist untragbar. Zu allem
Überfluss berichten wieder Birgit und ihre kanadische Freundin davon,
es sei auch noch eine heimliche Billigabsteige für Fernfahrer, und sie
seien deshalb auch dort belästigt worden.
Der nächste
Ort Hospital nach unserem
Handzettel des Pilgerbüros nur noch 2,5 km entfernt.
Eine Sache von einer halben Stunde. Denkste!
Fast hätten wir die Abzweigung nach links übersehen. Dann
ging es immer weiter von der Straße weg ins vor uns liegende
Gebirge. Eine Abkürzung, vermutete ich optimistisch. War es auch,
aber äußerst anstrengend.
Die Landschaft wurde immer wilder und schöner, der Weg
immer steiniger und steiler. Ein Einheimischer (wohl Invalide) kam
uns entgegen, schwatzte mit uns Pilgern. Vater und Sohn, das fände
er prima. Bach (man turnt über die Reste einer zerstörten
Brücke), einen steilen Abhang hoch, durch ein Dörfchen,
es nahm kein Ende. Endlich auf einer Höhe die Straße
wieder erreicht. Ein Bergwerk mit drei qualmenden Schornsteinen, davor
drei Häuser, eines davon eine Bar. Ein Blick zurück: von
Olveiroa trennten uns inzwischen zwei Höhenzüge. Wir
hatten zwei Stunden und mindestens 5 Kilometer gebraucht. (Wie sich später
herausstellte, waren es tatsächlich 5 km gewesen.)
Erschöpft in die Bar. Wie weit noch bis (zu diesem verdammten)
"Hospital"? Die Wirtstochter: Hospital? Das sei doch hier.
Sie war ganz schön kess und fragte uns nach Strich und Faden
aus, sogar Harald nach seinem Alter. Suchte wohl einen Prinzen, der
sie aus dieser abgelegenen Gegend rausholte. Laut DuMont-Handbuch
führte die Fahrstraße nun direkt nach Cée. Es wurde aber
ein etwas längerer Umweg durch die Landschaft empfohlen. Wir
hatten schon wieder Kräfte gesammelt und wollten nicht die
Straße entlang. Trotz der folgenden Anstrengungen war diese
Entscheidung richtig.
Also ging es in eine einsame Mittelgebirgslandschaft,
links unten im Tal immer die Straße, ganz vorn einige Häuser
von Cée. Die im DuMont-Handbuch eingezeichnete Strecke ist inzwischen
total verändert. (In der Ausgabe 2002 ist der ganze Weg von
Santiago zum Kap Finisterre gar nicht mehr enthalten.)
Im Zickzack geht es mal nach Westen, mal nach
Süden, einmal sogar ein kleines Stück nach Nordwesten.
Irgendwann Rast bei einer großen Einsiedelei, die offenbar auch
als Wallfahrtsort diente. Wenigstens Schatten. Dann wieder endlos
weiter, dazu noch auf und ab. Endlich, vor einer Höhe mit
Fernsehmasten schwenkt der Weg definitiv nach Süden auf Cée zu.
Rechts noch einmal ein großes Gebäude. Wieder eine Einsiedelei?
Zahlreiche Tische und Bänke vor dem Haus, sogar mit Tischdecken.
Davor am Weg Hinweise: "Wasserstelle" und "Betreten verboten".
Ein ganzes Stück weiter wieder eine kleine Höhe: vor uns
jetzt Sicht bis zum Meer, und ganz rechts: "Mensch, das ist Kap
Finisterre!" rufe ich. Durch einen Wald, der Weg schwenkt nach links, aber
geradeaus ist eine Baustelle mit einem neuen Steinplattenweg. Eine
neue Pilgerautobahn? So sieht es aus, aber kein Hinweis. Links liegen
auf dem Weg einige kleine Steine in einer Querlinie. Das heißt
eigentlich: "Hier nicht entlang". Die gelben Pfeile weisen aber dorthin.
Zur Vorsicht folgen wir ihnen. (Das war richtig.)
Kurz darauf geht es nach Südosten steil bergab. Ich rutsche
mit dem Stock und einem Bein gleichzeitig weg und falle, das einzige
Mal auf dem ganzen Pilgerweg. Es ist aber nichts passiert. Weiter
geht es sehr steil hinunter; vor uns qualmt ein Schrottverwertungswerk
in Cée. In der Stadt geht es gleich nach rechts. Eine Bar lädt
(erfolgreich) zur Rast.
Zwei Bier, dann geht es guter Dinge weiter. Auf einmal sind wir
schon durch Cée, haben kein Übernachtungsangebot gesehen. Wir
haben aber keine Lust, zurückzugehen und zu suchen. Also
weiter. Rechts ein großes Hotel (sieht zu teuer aus); davor
folgt der Pilgerweg einer Straße, die steil nach oben geht.
Wir entschließen uns, lieber am Rand der Bucht zu bleiben
und erreichen Corcubión. Dort fragen wir rum und kommen in einem
kleinen Hotel unter. Zimmer mit Balkon und Meeresblick,
eigenes Bad selbstredend, an der
Decke ein vierarmiger Leuchter statt einer Glühbirne. Dafür
kostet's auch 7.000 P., und auch das Abendessen im Haus wird das teuerste
unserer ganzen Fahrt. Das darf schon einmal sein. Und außerdem
(karges) Frühstück inbegriffen (1 Milchkaffee und 1
Croissant).
Dann gab es noch eine leichte Aufregung. Zwar wurden laut
einem Aushang keine motorisiert Angereisten aufgenommen, aber
alles vor uns füllte eifrig Anmeldeformulare aus. Dabei
konnte ja außer uns eigentlich kaum jemand zu Fuß
heute eingetroffen sein. Nun, es stellte sich heraus, dass die
Formulare nur Reservierungen für eine Warteliste waren.
Als wir an die Reihe kamen, gab es gleich Betten - und eine
weitere Pilgerurkunde (die "Finisterra"? :-)) ! Das Refugio ist Spitze,
nur mit den merkwürdigen Duschkabinen
wie in Palas de Rei und Pedrouzo.
Auf dem Rückweg sahen wir weitere Pilger zu Fuß,
alles Deutsche. Im Refugio stießen wir auf Birgit und ihre
Freundin aus Kanada. Sie luden uns zur
Abschiedsfeier am abendlichen Strand ein. Dieser lag Fisterra
gegenüber, der einzige Strand an der Westseite, mit hoher
Brandung. Erst war ich fast verlegen wegen der Einladung; dann
kapierte ich, dass Harald und ich wohl einen zuverlässigen Eindruck
machten und deshalb zugleich Begleitschutz waren; die beiden waren
die Belästigungen durch Machos satt. Am Strand ging es fröhlich
und harmlos zu. Eine österreichische Pilgerin kam
noch spontan dazu. Dann sank die Sonne ins Meer. Die Fotoapparate
klickten, was das Zeug hielt. Fast im Dunkeln stolperten wir
zurück ins nahe Fisterra jenseits der Dünen.
Am Morgen gingen Harald und ich noch zum Hauptstrand von Fisterra,
an der Ostseite. Die Rucksäcke konnten im Refugio bleiben.
Die See war flach wie ein Brett, fast keine
Dünung, aber das Wasser kalt wie die Nordsee. Ich überwand
mich und schwamm ein paar Runden. Es waren nur wenige Menschen am Strand.
Kurz vor 13 Uhr
holten wir unser Gepäck aus dem Refugio ab (es schloss
um 13 Uhr vorübergehend),
13.45 Uhr fuhr der Bus nach Santiago vor. Unsere große
Pilgertour war zu Ende. Mit der Hilfe Gottes war alles gut gegangen.
Die Rückreise begann am 7.9.
in Finisterre mit dem Bus um 13.45 Uhr
nach Santiago (87 km, 1.425 Peseten). Es gab noch einen späteren
Bus um 16 Uhr, bei dem man aber umsteigen musste. Den aktuellen Busfahrplan
erhält man in Santiago im Touristenbüro. In Santiago fuhren
wir am 8.9. mit einem Linienbus um 7.55 Uhr vom Busbahnhof zum Flughafen
(200 Peseten). Auch diesen Fahrplan gibt's im Touristenbüro.
Fahrzeit eine knappe halbe Stunde. Von Santiago aus flogen wir um
10 Uhr nach Bilbao. Den Flug haben wir schon zu Hause gebucht, da
der Esperantofreund, bei dem wir in Bilbao übernachteten, uns
das geraten hatte; er selbst habe schon einmal keinen Platz mehr
bekommen. (Nun, in der kleinen Fokker-Maschine blieben von den etwa
50 Plätzen doch noch ein paar frei. Die Ferien waren ja auch zu
Ende.) Angeblich gibt die Iberia 50% Ermäßigung für
Pilgerrückflüge, aber diesen Rabatt hätten wir
natürlich erst in Santiago mit Vorzeigen der Compostela bekommen.
Achtung: Im Erdgeschoss des Pilgerbüros bot ein
Reisebüro Flüge zu "Pilgertarifen" an. Die waren genauso
teuer wie von zu Hause. Außerdem Unterkünfte im
Studentenheim für 4.500 Peseten, was in Santiago unverschämt
teuer ist. (Wir hatten ein Quartier bei der Kathedrale gleich um die
Ecke: ein einfaches Doppelzimmer für 3.000 Peseten insgesamt,
also zu einem Drittel des Preises.)
In Bilbao holte uns der Esperantofreund vom Flughafen ab und brachte
uns gleich zum Busbahnhof, wo wir eine Fahrt Bilbao-Biarritz für
den anderen Tag buchten (145 km, 2 1/2 Stunden, 2.100 Peseten pro Person).
Tags darauf (9.9.) fuhren wir mit der U-Bahn zum Busbahnhof, kein Problem.
In Biarritz stellte ich fest, dass ich den Fahrplan der Linie 6
zum Flughafen verloren hatte. So mussten wir erst feststellen, wo wir
überhaupt waren (direkt vor dem Touristenbüro und hinter dem
Rathaus); im Touristenbüro lag der Fahrplan natürlich
auch aus. Die Linie
6 fuhr vor dem Rathaus 1 Stunde später ab. Auch hier musste also
genügend Pufferzeit sein.
Der Rückflug über Paris nach Düsseldorf wurde indirekt
von den Streiks der Speditionen behindert: unser Flugzeug in Paris kam
erst mit 1 1/2 Stunden Verspätung aus dem Süden, wir mussten insgesamt 6 Stunden warten.
Harald war stocksauer, ich kramte die letzte Schokolade raus. Von
Düsseldorf aus benutzten wir die S-Bahn und den Regionalexpress
nach Münster (2x umsteigen), wo wir 23.48 Uhr eintrafen. Danach
fuhr sofort ab 0.00 Uhr ein Überlandbus nach Nordwalde. Etwa 0.40 Uhr
waren wir zu Hause. Ein langer Rückreisetag mit vielen
verschiedenen Verkehrsmitteln.
Auf dem Camino sind echte Pilger selten. Wo wir auftauchten, mit
unseren großen Hüten, ein Kreuz um den Hals, rissen die
Leute die Kameras hoch: "Da, da vorn laufen welche..." Wir sähen
wirklich gut aus, meinte ein spanischer Pilgerfreund in Hontanas
lächelnd. Sicher waren andere echte Pilger unscheinbarer und
nicht so leicht zu erkennen. Insgesamt gilt aber: Der Camino ist nur
noch zum geringen Teil ein Pilgerweg, er wird massenhaft als
Urlaubswanderweg missbraucht. Da hilft es auch nichts, dass immer mehr
Refugios gebaut werden. Im Gegenteil, sie locken noch mehr Massen an.
Ein unlösbares Problem, denn der "echte" Pilger ist ja gar
nicht einwandfrei von den Touristen und Sportlern zu trennen. Niemand
wird verlangen, dass nur der ein echter Pilger ist, der rein aus
religiösen Gründen unterwegs und tief fromm ist. (Sicher war
doch bei uns selbst auch eine sportliche Komponente in der Motivation dabei,
z.B. bei mir: Schaff ich das noch, oder bin ich schon zu alt?) Man
würde etwa definieren, dass der ein echter Pilger ist, für den
die Meditation auf dem Weg das wichtigste Anliegen ist. Dieses Kriterium
ist praktisch natürlich nicht handhabbar.
Der Pilgerausweis und die Stempel bieten auch keine
Kontrollmöglichkeit. Den Ausweis bekommt jeder, der bei einer
Ausgabestelle auftaucht und behauptet, ab hier pilgern zu wollen. Man
kann ja nicht vorhersehen, ob er nicht zwei Tage später schon
wieder mit dem "Pilgern" aufhört. Der Stempel wird jedem gegeben,
der ihn haben will, auch ohne Übernachtung. Selbst der, der
für jeden Tag mit glaubwürdiger Entfernung einen Stempel
hat, kann die Etappen mit dem Bus oder einem versteckten Privatauto
bewältigt haben. Und nach den Erzählungen der Pilger wird
ziemlich oft "gemogelt", d.h. die eine oder andere Etappe mit dem
Bus zurückgelegt. Auch das ist nicht generell ehrenrührig, denn
was soll einer machen, der vor Blasen momentan nicht weiterkommt, aber
aus Zeitgründen nicht an einem Ort verweilen kann?
Insgesamt ist so jede Kontrolle problematisch, darunter auch die
Aufnahmereihenfolge: Fußpilger, Reiter, Radfahrer; Fußpilger
mit Begleitfahrzeug (aber nicht die Fahrer), Radfahrer mit
Begleitfahrzeug. Noch problematischer sind Fußpilgergruppen:
Eigentlich haben sie ihr Bett genauso verdient wie Einzelpilger;
andererseits sorgen größere Gruppen dafür, dass
das betroffene Refugio, wo sie auftauchen, unweigerlich überbelegt
wird (siehe Triacastela). Man kann also nur raten, dass Gruppen eigene
Zelte mitbringen, damit wenigstens genug Betten bleiben.
Eine drastische Möglichkeit wäre, nur den als Pilger
anzuerkennen, der ein Aussendedokument seiner Pfarrgemeinde
(oder einer anderen kirchlichen Organisation) aufweisen kann. Wir
hatten so ein Dokument mit. Tatsächlich ist eine derartige
Maßnahme im Gespräch; ich bezweifele aber, ob sie durchsetzbar
ist.
Die vielen Touristen auf dem Camino zeigen einen
dringenden Bedarf, der bislang gar nicht gedeckt zu sein scheint:
Weitwanderwege zu haben, mit einfachen, bezahlbaren Unterkünften,
die man flexibel vorbestellen kann, um tagsüber von der Sorge
um sein Nachtlager befreit zu sein. Vielleicht müssen in
Deutschland die Einzelwanderer die Jugendherbergen wieder
entdecken (und umgekehrt), oder es gibt mehr Unterkünfte beim
Bauern im Heu. Aber da ist noch viel zu tun...
Der Camino macht süchtig, sagt man: "Einmal Camino, immer
Camino." Werde ich den Weg noch einmal gehen? Ich weiß es nicht.
Mancher geht ein zweites Mal, um das erste Mal zu verarbeiten. Vielleicht
wird es mir so gehen.
Letzte Änderung: 23.06.2025
01.09.2000, Freitag: Nach Santiago de Compostela, 20 km (792 km)
Am Morgen lag Harald da wie ein Häufchen Elend: die ganze
Nacht hatte er sich übergeben müssen. Ich erschrak.
Mist, jetzt fiel mir ein, dass immer vor aufgetautem Essen im
Ausland gewarnt wird, besonders vor russischem Salat ("saladillo").
Und gerade den hatte (nur) Harald gestern Abend gegessen! Durchfall?
Nein. Wenigstens das nicht.
13.30 Uhr erreichten wir die Kathedrale. Wir waren am Ziel!
Als wir aus der Kathedrale traten, trafen wir auf Stefan (Fellner). Wie
schön, auch ihn am Ziel noch einmal zu treffen. Gleichzeitig
mussten wir aber auch schon Abschied nehmen, denn er wollte nicht
in Santiago bleiben.
Dann ging es auf Herbergssuche.
Wir hatten eine Adresse ganz in der Nähe, aber ein kleiner
grauhaariger Mann aus einer Bar gleich um die Ecke des benachbarten
Klosters fing uns ab: Ob wir ein Zimmer suchten? So bekamen wir
"unser" Quartier, ein einfaches Zimmer über einer kleinen Bar,
nur 100 m von der Kathedrale entfernt und für 3.000 P. Das
Wirtspaar (ich wusste jahrelang nicht, ob der Mann ihr Ehemann,
ihr Bruder oder ihr Sohn war; es war ihr Sohn) wurde immer freundlicher, besonders als wir uns
kurz darauf entschlossen, den anderen Tag einen Ruhetag einzulegen
und gleich zwei Nächte zu bleiben. Wir bekamen u.a. den
Stammgastrabatt beim Bier und auch sonst jeden Gefallen. Natürlich
beschlossen wir, auf dem Rückweg auch gleich wieder hier einzukehren.
Nun, das Parador war es nicht. Das Fenster ging nach hinten raus auf
eine halbe Ruine, in deren Erdgeschoss regelmäßig lautstark
eine Frau keifte. (Das Haus ist inzwischen renoviert.)
Aber das sonstige nächtliche Gegröle der
Innenstadt blieb doch angenehm in der Ferne.
Hier die Adresse der Unterkunft:
Cafe - Bar "La Campana", Josefina Rodríguez Rivas,
Campanas de San Juan, 4
15704 Santiago de Compostela, Tel. 981 58 48 50
Kurz vor der Kathedrale kommt man an der Praza de Cervantes heraus,
leicht an der Gedenksäule mit der Büste des spanischen Nationaldichters zu erkennen.
(Links am Ende des Platzes, links von einer Kirche liegt übrigens das sehr empfehlenswerte
Restaurant "Casa Manolo", worüber ich andernorts mehrfach berichte.) Der Pilgerweg geht
rechts weiter in die Gasse Acibechería. (Rechts kommt ein kleiner Supermarkt,
aber ein günstigerer und größerer liegt an der Praza do Toural, am Ende der
Rúa do Vilar.) Die Gasse weitet sich auf die Praza da Inmaculada. 50 m
weiter voraus links liegt schon die Kathedrale, rechts eine schöne Grünanlage
und dahinter der riesige Klosterkomplex San Martiño Pinario.
Um die Bar "La Campana" zu erreichen, wende man sich sofort nach rechts,
sobald man die Gasse Acibechería verlassen hat. Nach etwa 20 m
biegt man rechts um die Ecke und hat die Bar "La Campana" vor sich (Schild mit
zwei Glocken und zwei Muscheln). Links neben der Bar gehen ein paar Stufen hoch,
das soll die Straße Campanas de San Juan sein,
aber sie steht nicht auf dem Stadtplan, den das Touristenbüro verteilt. Dort ist
nur die Rúa da Moeda Vella vor der Bar eingezeichnet.
Achtung: die
Hausnummer 6 ist eine Pension "Campanas de San Juan", nicht mit der Bar "La Campana"
verwechseln! Die Preise sind dort etwa doppelt so hoch.
Bis 2015 war ich fast jedes Jahr in der Bar "La Campana" zu Gast.
Verändert hat sich nicht viel. Auch die Preise sind nur sehr mäßig
gestiegen. Mein Spanisch ist inzwischen viel besser geworden, aber die gute
Doña Josefina verstehe ich immer noch sehr schlecht. Sie mich aber
sehr gut. ;-)
So geht's natürlich auch!
Nachtrag von 2006:
Außer dem
Seminario Menor, in dem ich 2005 zweimal
nächtigte, gibt es noch eine neue private Pilgerherberge Acuario direkt am
Pilgerweg in die Altstadt hinein. Laut meinem Pilgerfreund Hans war dort der
Schlafsaal mit langen Reihen von Doppelstockbetten zwar riesig, aber sonst
alles in Ordnung. Preis 7 EUR. Leider doch gut 2 km von der Kathedrale entfernt.
Sonstige Unterkunftsangebote in Santiago de Compostela
mit Adresse und Preis gibt es
hier.
Erlebnisse in Santiago im
September 2002 /
September 2003 /
Juni 2005 /
September 2005 /
Juli 2006 /
September 2007
Juli 2009
Juli 2010
Juni 2013
In der Stadt trafen wir noch so manchen Pilger, den wir mehr oder
minder gut kannten, und nahmen von allen Abschied. Geschlafen haben
wir lange und gut.
02.09.2000, Samstag: Ruhetag
Stadtbesichtigung und Abschied von weiteren Pilgern. Um 12.00 Uhr
Pilgermesse in der Kathedrale, sogar, zu unserer Überraschung
mit dem Botafumeiro, dem riesigen Weihrauchfass. Leider schreckte
der Touristenrummel auch vor massiver Störung der Messe nicht
zurück. Nicht weniger als drei Mal musste der zelebrierende
Priester unterbrechen, um mit lauter Stimme das Umhergehen und
ungenierte Schwatzen zu untersagen. Helfen tat es wenig. Man musste
sich schon sehr konzentrieren, um die wünschenswerte Andacht
aufzubringen. Symptomatisch für den Jakobsweg heute!
Kapitel 6: Von Santiago de Compostela zum Kap Finisterre (4 Etappen, 100 km)
Busfahrt Santiago - Finisterre (mit Privatunterkünften)
Anfang September 2002 und
Ende Juli 2006.
Zu Fuß zum Kap Finisterre (mit Beschreibung der neuen
Refugios in Negreira und Olveiroa, Hinweis auf Unterkünfte in Cée und Corcubión)
03.09.2000, Sonntag: Nach Negreira, 21 km (813 km)
Wir müssen die einzigen gewesen sein, die an diesem Sonntag zum
Kap Finisterre aufbrachen. Das ergaben unsere Fragen unterwegs. Ja,
die Tage vor
uns seien jede Menge Pilger, unterwegs nach Finisterre, dagewesen, darunter
sehr viele Deutsche. Wir selbst sahen auf dem Weg keinen einzigen Mitpilger.
Knapp 100 km, das war ein Klacks gegenüber den fast 800 km,
die wir schon hinter uns hatten. Dennoch fiel uns diese Strecke besonders
schwer. Ich habe versucht zu ergründen warum.
04.09.2000, Montag: Nach Pino do Val, 27 km (840 km)
Frühstück in unserer Unterkunft, da wir keine Vorräte
mehr hatten und die Geschäfte noch geschlossen waren. Nur
noch Wasser und Wein in den Flaschen und Notvorrat: etwas Schokolade
und trockene Kräcker. Zunächst wieder den Weg von gestern,
an Kirche und Friedhof vorbei. Dann durch Wälder und Dörfer
wie am Vortag. Ich stellte mir vor, dass eine Frau allein durch diese
Einsamkeit der Wälder ginge, nicht zu empfehlen. Und wirklich
war meine Ahnung berechtigt: Birgit, die Dänin, und eine andere
Pilgerin berichteten später, dass sie auf dieser Strecke von
einem Mann bedroht wurden (siehe "Allgemeine Informationen", Punkt
"Nordspanien: Land und Leute"). Der Pilger ist hinter Santiago nicht
tabu.
05.09.2000, Dienstag: Nach Corcubión, 32 km (872 km)
Herrlich lange geschlafen und erst um 9.20 Uhr los. Zunächst die
Fernstraße entlang nach Picota. Von dort geradeaus nach Puente
Olveira, wo von rechts gelbe Pfeile einmündeten: wir hatten den
Pilgerweg wieder. Bald darauf Olveiroa.
06.09.2000, Mittwoch: Zum Kap Finisterre, 20 km (892 km)
Dann brach der letzte Tag unserer Pilgertour zu Fuß an. An
der Kirche von Corcubión suchten wir den Pilgerweg wieder. Da, eine
Muschelkachel, die nach oben zeigt. Aber danach nichts mehr. Nach etwas
Rumfragen eine kleine Asphaltstraße steil hoch und erst oben
wieder gelbe Pfeile von rechts. Danach ging es meistens die Fahrstraße
nach Fisterra entlang. In Langosteira eine kleine Bucht mit
Sandstrand. Ein Foto als Beweis, dass wir den Atlantik nicht nur
gesehen haben. Aber dann weiter nach Fisterra, erst kilometerlang
an dessem schönen Sandstrand entlang. Badegäste schauen
verdutzt hinter uns her. Im Ort kenne ich mich aus. Geradeaus auf
den Hafen zu, da muss das Refugio irgendwo sein. Da, ein Pilger,
und hier ein verdächtiges (neues) Haus: reingeschaut, aha,
Tocktocks mit Gepäck vor einer Anmeldung. Wir sind da.
Danach genossen wir noch den Tag, stiegen ein Sträßchen
zu einem Aussichtspunkt, weit oberhalb des Kaps, hinauf und
gewöhnten uns an den Gedanken, dass das Tippeln vorbei war.
Sonnenuntergang am Kap Finisterre
07.09.2000, Donnerstag: Abschied vom Kap Finisterre
Im Refugio Fisterra darf man ausnahmsweise auch einen zweiten Tag
bleiben, wenn Platz ist. Meist landet man dann auf Matratzen.
Rückreise
Schlussbemerkungen