Zu: Im Jahre 2000 auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela

Kapitel 5: Durch Galicien bis Santiago


Autor: Rudolf Fischer
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26.08.2000, Samstag: Nach Triacastela, 21 km (654,5 km)

Vom Refugio Cebreiro aus gingen wir nicht die Landstraße, wie ausgewiesen, sondern einen Weg, der oberhalb des Refugios parallel zur Straße in den Wald lief. Ich kannte ihn noch von unserem Marsch von vor zwei Jahren. Es gibt eigentlich sogar drei Wege in etwas verschiedener Höhe, die aber später alle wieder zusammenlaufen. Man trifft dann auf eine Schotterpiste, die nach rechts zur Fahrstraße hinunterführt. (Diese Strecke ist im DuMont als schwarzes Nebensträßchen vermerkt.) Insgesamt bleibt man zunächst noch ziemlich hoch, hat sogar noch einen kurzen steilen Aufstieg bis Alto do Poio (1.337 m) und ist damit höher als der Cebreiropass. Die dortige Bar war wie immer dicht umlagert. Dann geht es endgültig bergab mit teils sehr schönen Ausblicken. Beim Anblick der Kalksteinbrüche im Tal erzählte ich Harald, dass man früher bußfertigen Pilgern Kalkblöcke aufgeladen habe, die diese dann büßend 80 km zu einem Brennofen schleppten. Sie waren für die Kathedrale von Santiago bestimmt. Harald hielt das für einen meiner schlechten Scherze, um ihn beim Laufen wach zu halten; da irrte er aber.

In Triacastela waren wir mit die ersten im Refugio, zogen aber wegen unzumutbarer Überfüllung bald wieder aus (siehe "Allgemeine Informationen", Punkt "Das Problem der Refugios"). An der Kirche fanden wir ein Schild: "Der Camino ist kein Schnelligkeitswettbewerb, sondern eine Übung in Menschlichkeit." Amen! In Galicien gibt es reichlich private Unterkünfte. In den ersten beiden Bares verlangte man 4.000 P. für ein Doppelzimmer (mit Etagenbad), im dritten nur 3.000 P. Ich war etwas skeptisch, aber das stellte sich als unbegründet heraus: Das Zimmer war ordentlich, das Etagenbad auch. Wir haben es dort gut getroffen. Leider wurde Harald ab dem Nachmittag von Kopfschmerzen gepeinigt.


27.08.2000, Sonntag: Nach Sarria, 19 km (673,5 km)

Bei Etappen von 20 km und etwas mehr ist die Auswahl der Refugios in Galicien fast zwangsläufig vorgegeben. Da die Ferienzeit zu Ende ging, glaubten wir aber, von unserer Taktik "lieber immer genau ein Refugio weiter als die nächste große Stadt" abweichen zu können, zumal wir ja weiterhin immer sehr früh am Ziel waren. Insgesamt behielten wir damit auch recht. Selbst an Tagen eines größeren Andrangs hatten wir keine Schwierigkeiten, ein Bett zu bekommen. Andreas, den wir in Puente la Reina kennen gelernt hatten und der mir inzwischen übers Internetz einen schönen Bericht geschickt hat, war uns eine Woche voraus, weil er die Meseta aus Zeitgründen überschlagen hatte. Er berichtet noch, dass die Refugios in Galicien zum Platzen voll waren, so dass eine "Roncesvalles-Regel" angewandt wurde: Wer später eintraf, aber schon von Roncesvalles ab unterwegs war (im Gegensatz zu den 100-km-Pilgern), bekam bevorzugt noch ein Bett. - Nun, wer Santiago noch bis zum Ende der Ferien erreichen musste, war inzwischen längst vor uns. Genau das hatte ich schon zu Hause in meine Zeitplanung mit einbezogen.

Morgens war es nebelig und kalt. Der Weg nach Sarria war die letzte Etappe, die ich noch nicht kannte, weil wir sie vor zwei Jahren aus Zeitnot mit den Autos zurückgelegt hatten. Wir gingen, wie im Plan vorgesehen, nicht über Samos (dessen Refugio allgemein gelobt wurde), sondern über Calvor. Eine landschaftlich schöne Strecke, in sanftem Auf und Ab durch kleine Bauerndörfer, über Brückchen und an Wäldern und vielen kleinen Bächen vorbei. Tatsächlich glaubte ich, sie doch wieder zu erkennen, denn sie ähnelt ungemein der folgenden Etappe von Sarria nach Portomarín.

In Sarria war "Markttag", also ein Sonntag, an dem auch die Geschäfte geöffnet sind. Eine Gruppe von Pfadfindern aus Italien begrüßte Heidi, die wir in einer Bar getroffen hatten, mit Hallo. Sie hatten eigene Zelte dabei und nahmen so den anderen Pilgern keine Plätze weg. Ansonsten waren sie "echte" Pilger. Sie liefen bis Santiago mit uns parallel, und bald galten auch wir als gute Bekannte. Harald kann etwas Italienisch, und mein Spanisch verstanden sie auch.


28.08.2000, Montag: Nach Portomarín, 23,5 km (697 km)

Wenn es auf das Ende zugeht, hier Santiago, dann scheint sich alles zu beschleunigen. So war es auch in Galicien. Wir liefen unsere Etappen wie die Automaten. Die Refugios waren prima, alle Alltagsaufgaben Routine. Wir schliefen sogar länger und kamen meist erst 8 Uhr oder noch später los. Es wurde ja auch jeden Morgen später hell.
Im Morgennebel von Galicien
In Galicien ist es morgens feuchtkalt. Der Nebel hält sich manchmal bis 11 Uhr, erst dann kommt die Sonne heraus. Die Landschaft ähnelt viel dem Münsterland. Nur dass statt der Zäune immer noch überwiegend Steinmauern die Felder und Wiesen säumen.

In Portomarín lernte ich einen neuen unfairen Trick kennen: Einige stellten sich gar nicht bei der Anmeldung an, wie wir es bis dahin gewohnt waren, sondern liefen einfach gleich in den Schlafsaal und belegten erst einmal Betten. Die Gruppe, die uns in Triacastela indirekt vertrieben hatte, sandte sogar einige Schnellläufer nach Portomarín voraus, die für die Nachzügler mit belegten, das aber geschickt zu verbergen wussten. In anderen Herbergen ging das nicht, da die Betten den einzelnen Angemeldeten zugewiesen wurden. Hier war die Hospitalera allein. Sie sah, wie ich etwas sauer und unschlüssig vor einem anscheinend vollen Schlafsaal stand. Da führte sie mich in ein Nebengebäude, das noch ganz leer war. Dort konnte ich die Betten für Harald und mich aussuchen. Auch sonst war diese Frau ein Segen. Wir hatten festgestellt, dass an allen Wasserbecken ein Schild hing, dass man dort nicht seine Wäsche waschen dürfe. (Das wurde andernorts sogar manchmal in der Küche gemacht.) Nach einer erquickenden Siesta in einem benachbarten Park (Isomatten!) lugten wir im Waschraum um die Ecke. Da stellte sich heraus, dass die Hospitalera nebenbei einem die Wäsche in Automaten wusch, für einen kleinen Obolus (300 P.) selbstverständlich. Auf ihre Frage lieferten wir gleich einen Berg Schmutzwäsche ab, der aber draußen nicht mehr trocken geworden wäre. Für weitere 500 P. kam unsere Wäsche dann auch noch in einen Trockner. Punkt 19 Uhr erhielten wir alles tipptopp zurück, und dann bedankte sie sich noch bei uns für den "Auftrag". Mann, waren wir froh und dankbar! Es gibt zwar in vielen Refugios Waschmaschinen, aber die Handhabung ist mir ein Buch mit sieben Siegeln, und ich habe deshalb die Finger davon gelassen.

Abends kamen Anne und ein englisches Ehepaar, das wir auch schon länger kannten; mit den beiden hatten wir z.B. in Ruitelán vor der Bar gesessen, als wir fast geteert wurden... Sie hatten bislang kein Bett bekommen. In einem benachbarten Hotel fehlte warmes Wasser, eine andere Hospedería wollte angeblich 13.000 P. (Evtl. ein Hörfehler für 3.000: "troze" gegenüber "tres", denn alle drei konnten kein Wort Spanisch.) Der Ehemann war am Ende seiner Kräfte und wankte nur noch hin und her. Anne lief dann noch einmal resolut zur Anmeldung des Refugios und verhandelte um Matratzenplätze. Es ging dann wie bei der wunderbaren Brotvermehrung in der Bibel: als man ernsthaft in den Schlafsälen noch einmal nachschaute, fanden sich drei leere Betten, auf die nur liebe Nachbarn (siehe das Reservierungschaos der Gruppe, wie oben geschildert) einige ihrer Sachen abgelegt hatten.

Nachts dachte ich, einer besonders ungeschickten "Knistertüte" heimleuchten zu müssen: es knisterte nicht nur, es fielen auch Sachen lautstark auf den Fußboden: es war eine Katze, die durch die offene Außentür eingedrungen war und in den Tüten nach Nahrungsmitteln suchte.


29.08.2000, Dienstag: Nach Palas de Rei, 25,5 km (722,5 km)

Frühstück im Dunkeln vor dem Refugio. Hinter uns ziehen reihenweise Knistertüten los. Man begreift es nicht. Wir waren nun immer kurz nach 13 Uhr, also der Öffnungszeit der Refugios, am Ziel und konnten uns die besten Betten aussuchen. Waren es alles Langläufer, oder wollte man unterwegs rumbummeln? Mir blieb dieses Verhalten ein Rätsel.
In Galicien waren auch für den Autofahrer die "Pilgerwechsel" nicht zu übersehen: ein breites Pflasterband, das den Asphalt unterbrach.
Achtung, Pilger kreuzen die Fahrbahn
Vor Palas de Rei der erste Eukalyptusbaum. In Spanien, besonders in Galicien, wird sehr viel aufgeforstet, meist Kiefern und Erlen. Leider aber auch immer noch Eukalyptusbäume in Massen. Ich verstehe nicht viel von Forstwirtschaft, aber manches Tal, beherrscht von den hoch wachsenden Fremdlingen, sah aus wie in den Tropen.

Zum Vergleich: Dieselbe Strecke (von Palas de Rei bis Santiago) in der Beschreibung von 2002. (Siehe auch León - Santiago 2005)

Das Refugio in Palas de Rei war das luxuriöseste, das wir auf dem Jakobsweg gesehen haben: Ein Schlafsaal mit drei Nischen von zweimal 4 und einmal 2 Betten, dazu ein eigenes Badezimmer! Kaum zu glauben. Einzige Einschränkung: gerade die Duschkabinenkonstruktionen der neusten Refugios (Palas de Rei, Pedrouzo und Finisterre) waren sehr eigentümlich. Ohne Duschvorhänge, statt dessen an der Kranseite nur ein kleiner Mauervorsprung. Der Wasserstrahl zwang einen aber gerade an die andere Seite, wollte man nass werden. Man bot sich so schutz- und hüllenlos dem Betrachter dar und das, obwohl in allen drei Herbergen die Duschen nicht nach Geschlechtern getrennt waren. (Von meinem Bett aus hätte ich sogar bei offener Tür - und die wird ja von allen gern offen gelassen - direkt in eine Duschkabine hineinsehen können. Ich habe dann das Kopfende an die andere Seite verlegt.) Es lief darauf hinaus, dass immer eine Geschlechtsgenossin "Wache stand", wenn eine Frau unter der Dusche war. Was haben sich die Konstrukteure nur dabei gedacht?

In Palas de Rei kamen auch Spätläufer unter, aber das Haus war so groß, dass nur ein Teil der Flure und sonstigen Räume mit Matratzen belegt wurde. Auch bei Duschen und Toiletten gab es keine Engpässe.

An diesem Tag fassten Harald und ich auch einen wichtigen Entschluss: Erstens, nach Finisterre zu Fuß zu laufen. Zweitens, da Harald keinen so zentralen Wert auf die Pilgermesse am Sonntag legte, von Pedrouzo aus schon am Freitag nach Santiago de Compostela zu gehen (und damit nicht am Monte do Gozo zu übernachten). Dann hatten wir den Tag herausgeholt, der uns noch für Finisterre fehlte. Sonst hätten wir evtl. nach der Pilgermesse noch am selben Nachmittag bis Negreira laufen müssen. So war alles zeitlich entkrampft. Die Mammutetappen über Arzúa und Monte do Gozo waren vorher schon überflüssig geworden, da wir zu Anfang auf den Besuch von San Millán de Cogolla verzichtet hatten. Wir würden sowohl in Santiago als auch in Finisterre genügend viel Zeit haben. Diese Aussichten stimmten uns heiter, und wir priesen uns noch einmal glücklich, dass unsere Füße jetzt so widerstandsfähig geworden waren und nicht mehr brannten oder Druckstellen bekamen. (Nachts gab es allerdings oft "Phantomschmerzen", wie ich das nannte: Schmerzen, die nach einem leichten Druck mit den Fingern sofort verschwanden. Die Füße schienen den Schmerz zu "träumen".)


30.08.2000, Mittwoch: Ribadiso, 26,5 km (749 km)

Mit Kopfschmerzen ging ich in diese etwas längere Etappe. Selbst schuld, ich hatte den Abend zuvor doch zu viel Bier erwischt. Die erste Bar weckte die Lebensgeister wieder. Hier sahen wir auch zwei Pilger auf Pferden vorbeireiten...

Nähert man sich Melide, so geht es erst durch ein Industrieviertel, und man denkt, man hat den Stadtrand schon erreicht. Wie so oft aber, macht der Pilgerweg vor einer größeren Stadt dann noch einen unvermuteten Bogen (diesmal nach links), um noch über eine schöne alte Brücke zu führen. Diese gehört noch gar nicht zu Melide, sondern zu dem Dorf Furelos, unmittelbar davor. Furelos war mir in bester Erinnerung, denn gleich hinter der Brücke kommt man an eine Kirche mit einem besonderen Kruzifix: auf diesem weist eine Hand Jesu zu Boden, was manche Deutung erfährt. Hier hatte uns vor zwei Jahren der Pfarrer überschwänglich begrüßt und mit uns gesungen. Also betraten wir erwartungsvoll die Kirche. Tatsächlich kam der Pfarrer gleich auf uns zu, aber irgendwie war er alt und müde geworden. Nur sein Englisch wollte er gleich an uns ausprobieren, aber wie üblich antwortete ich auf Spanisch, dass wir Deutsche seien und keine Engländer. Ein indianisch aussehender Pfarrhelfer (wahrscheinlich aus Südamerika) kam dazu und fand das bemerkenswert, dass man mit Deutschen gleich Spanisch reden kann. Das war's dann auch schon. Wir sprachen unser Gebet und zogen weiter. Wie so oft, kann man glückliche Momente der Vergangenheit nicht auf Abruf wiederholen.

In Melide gibt's ein bekanntes Restaurant "Ezequiel" mit angeblich dem besten Tintenfisch Spaniens. Wir konnten nicht davon profitieren, denn bei unserem Marsch durch Melide war es noch nicht Mittag. Heidi sagte später, das Restaurant habe keinen sauberen Eindruck auf sie gemacht und das Meeresgetier habe abschreckend ausgesehen, so dass sie gleich wieder gegangen sei. So sind die Eindrücke verschieden.

In der Ortschaft Boente hinter Melide steht wieder eine kleine Kirche mit interessantem Inneren. Wie vor zwei Jahren wurden wir regelrecht von einem Mann, der auf Pilger wartete, hineingelockt. Er war ganz enttäuscht, dass wir uns nur ein wenig umschauen und vor allem beten wollten. So wurde er seinen Touristenvortrag nicht los, mit dem er Spenden sammelte. Nun, wir haben auch so etwas auf den Sammelteller gelegt.

200 m vor dem Refugio in Ribadiso liegt eine neue Bar. Nach der Siesta auf dem Rasen hinter dem Refugio verbrachten wir den Rest des Nachmittags in der Bar (Heidi gesellte sich zu uns) und schauten den vorbeiziehenden Pilgerkolonnen zu. Die italienischen Pfadfinder rückten an, 41 Leute, eigentlich zwei Gruppen aus verschiedenen Städten, die sich aber unterwegs zusammengetan hatten. Sie wussten wohl nicht, dass die guten Anlagen des Refugios ganz nah waren, denn alle gingen der Reihe nach, wie sie eintrafen, erst einmal in der Bar auf die Toilette. Nur etwa die Häfte bestellte sich eine Limonade oder sonst ein Getränk. Das war der Besitzerin doch zu viel, und sie protestierte lautstark. Einer der beiden Gruppenleiter gab ebenso zurück. Dann legte sich der Zorn auch wieder: den immer freundlichen, lachenden Jugendlichen, die alle einen sehr guten Eindruck machten, konnte keiner lange böse sein. - In der Bar gab es wohl Bocadillos, aber kein warmes Essen.
Begegnung der guten Art
Vor dem Refugio stand ein junger Pilger, der recht deutsch aussah, streckte mir die Hand entgegen und sagte (tatsächlich auf Deutsch): "Das muss der Rudolf Fischer sein." Ahem, dachte ich verwirrt, jetzt kennt deinen roten Bart wohl langsam der ganze Camino. "Ich bin nämlich der Stefan aus dem Internet." Da fiel es mir ein: ich hatte kurz vor der Abreise noch eine Anfrage von einem Stefan Fellner beantwortet und ihm eine Kopie meiner Aussendeurkunde geschickt. "Vielleicht treffen wir uns ja irgendwo" hatten wir geschrieben, und nun in Ribadiso war es soweit. Er war gerade mit Angelika (Name geändert) eingetroffen, der wir nachher noch einige Male begegneten. Na, das war doch wieder eine der erfreulichen Begegnungen, die man auf dem Camino hat.
In Ribadiso meckerten einige Touristen über die Unterkunft, was nicht berechtigt war. Auch im Vergleich ist das Refugio von Ribadiso wirklich gut. Die Hospitalera gab's ihnen: "Ist doch kein Hotel hier, dass man alle Extrawürste erfüllen könnte."


Zum Vergleich: Dieselbe Strecke (von Arzúa bis Santiago) 2003 2005 2006 (mit Angabe einer Privatunterkunft in Arzúa).

31.08.2000, Donnerstag: Nach Pedrouzo, 23 km (772 km)

Ich hatte diese letzten Etappen mit sehr viel Straße und wenig Landschaft in Erinnerung. So war ich erstaunt, dass es doch immer noch kurze schöne Strecken durch die Natur gab, wenn sich auch die Nähe der großen Stadt (Santiago) langsam immer mehr durch Ferienhaussiedlungen bemerkbar machte. Ich war sehr gut drauf, hatte den Gedanken noch nicht verworfen, evtl. noch 16,5 km weiter zum Monte do Gozo zu laufen und so am anderen Tag schon sehr früh "gemütlich und triumphierend", wie ich in der Planung geschrieben hatte, in Santiago einzuziehen.

Die Vernunft setzte sich durch: Als wir in Pedrouzo waren, brannte die Sonne, und weitere 16,5 km hätten uns fix und fertig gemacht. Na, dann morgen eben ein etwas weiterer Weg bis Santiago als vom Monte do Gozo. Pedrouzo (auf manchen Karten auch als "O Pino" oder "Arca" bezeichnet) hat ein großes modernes Refugio. Wieder konnten wir uns die Betten aussuchen und nahmen zwei ebenerdige (also keine Stockbetten) in einer Nische, die durch Schränke (man denke sich solchen Luxus!) von dem übrigen Schlafsaal abgetrennt waren. Nachts wurde es sehr heiß, obwohl wir schon vor dem offenen Nischenfenster lagen. Erst redeten einige sehr lange, dann konnte so recht niemand einschlafen. Zudem kreischte die Waschraumtür entsetzlich laut, wenn jemand zur Toilette ging.


01.09.2000, Freitag: Nach Santiago de Compostela, 20 km (792 km)

Am Morgen lag Harald da wie ein Häufchen Elend: die ganze Nacht hatte er sich übergeben müssen. Ich erschrak. Mist, jetzt fiel mir ein, dass immer vor aufgetautem Essen im Ausland gewarnt wird, besonders vor russischem Salat ("saladillo"). Und gerade den hatte (nur) Harald gestern Abend gegessen! Durchfall? Nein. Wenigstens das nicht.
Er stand heroisch auf, konnte aber nicht frühstücken. Vorsichtig zogen wir los. Zuerst war es für ihn die Hölle. Die leichte Steigung am Ende des oft abgebildeten Hohlwegs, danach die längere bis zum Flughafen setzten ihm furchtbar zu. In Labacolla war eine Bar. Wir rasteten zum wiederholten Male, und er trank einen Orangensaft. Danach ging es bergauf, auch mit seinen Kräften. Gottseilob blieb der Durchfall aus. Am Monte do Gozo war Harald schon wieder soweit, die üblichen Späße zu treiben. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Wir konnten sogar bei unserem Plan bleiben und bis Santiago weitergehen.
Harald an der Stadtgrenze von Santiago de Compostela

13.30 Uhr erreichten wir die Kathedrale. Wir waren am Ziel!
Geschafft! Der Haupteingang der Kathedrale ist erreicht.

Man hat in Berichten gezeigt, wie hysterisch manche Pilger reagieren. Tränen, Freudentänze. Nichts davon bei uns. Dachten wir schon wieder an Finisterre? Zwei Frauen bedrängten uns mit einem Unterkunftsangebot, als wir uns gerade aufstellten, um feierlich genau auf den Haupteingang der Kathedrale zuzugehen. "Eine ganze Wohnung, nur Sie allein!" "Wir sind Pilger, wir brauchen keine ganze Wohnung." wehrte ich sie ab. Dann marschierten wir mit Sack und Pack feierlich in die Kathedrale und durch den Mittelgang nach vorn. Den Rucksack abgestellt, und ein langes Dankgebet. Zweiter Pilgerauftrag erfüllt!


Als wir aus der Kathedrale traten, trafen wir auf Stefan (Fellner). Wie schön, auch ihn am Ziel noch einmal zu treffen. Gleichzeitig mussten wir aber auch schon Abschied nehmen, denn er wollte nicht in Santiago bleiben. Dann ging es auf Herbergssuche. Wir hatten eine Adresse ganz in der Nähe, aber ein kleiner grauhaariger Mann aus einer Bar gleich um die Ecke des benachbarten Klosters fing uns ab: Ob wir ein Zimmer suchten? So bekamen wir "unser" Quartier, ein einfaches Zimmer über einer kleinen Bar, nur 100 m von der Kathedrale entfernt und für 3.000 P. Das Wirtspaar (ich wusste jahrelang nicht, ob der Mann ihr Ehemann, ihr Bruder oder ihr Sohn war; es war ihr Sohn) wurde immer freundlicher, besonders als wir uns kurz darauf entschlossen, den anderen Tag einen Ruhetag einzulegen und gleich zwei Nächte zu bleiben. Wir bekamen u.a. den Stammgastrabatt beim Bier und auch sonst jeden Gefallen. Natürlich beschlossen wir, auf dem Rückweg auch gleich wieder hier einzukehren. Nun, das Parador war es nicht. Das Fenster ging nach hinten raus auf eine halbe Ruine, in deren Erdgeschoss regelmäßig lautstark eine Frau keifte. (Das Haus ist inzwischen renoviert.) Aber das sonstige nächtliche Gegröle der Innenstadt blieb doch angenehm in der Ferne.
Hier die Adresse der Unterkunft:
Cafe - Bar "La Campana", Josefina Rodríguez Rivas,
Campanas de San Juan, 4
15704 Santiago de Compostela, Tel. 981 58 48 50

So findet man die Bar:
Kurz vor der Kathedrale kommt man an der Praza de Cervantes heraus, leicht an der Gedenksäule mit der Büste des spanischen Nationaldichters zu erkennen. (Links am Ende des Platzes, links von einer Kirche liegt übrigens das sehr empfehlenswerte Restaurant "Casa Manolo", worüber ich andernorts mehrfach berichte.) Der Pilgerweg geht rechts weiter in die Gasse Acibechería. (Rechts kommt ein kleiner Supermarkt, aber ein günstigerer und größerer liegt an der Praza do Toural, am Ende der Rúa do Vilar.) Die Gasse weitet sich auf die Praza da Inmaculada. 50 m weiter voraus links liegt schon die Kathedrale, rechts eine schöne Grünanlage und dahinter der riesige Klosterkomplex San Martiño Pinario. Um die Bar "La Campana" zu erreichen, wende man sich sofort nach rechts, sobald man die Gasse Acibechería verlassen hat. Nach etwa 20 m biegt man rechts um die Ecke und hat die Bar "La Campana" vor sich (Schild mit zwei Glocken und zwei Muscheln). Links neben der Bar gehen ein paar Stufen hoch, das soll die Straße Campanas de San Juan sein, aber sie steht nicht auf dem Stadtplan, den das Touristenbüro verteilt. Dort ist nur die Rúa da Moeda Vella vor der Bar eingezeichnet. Achtung: die Hausnummer 6 ist eine Pension "Campanas de San Juan", nicht mit der Bar "La Campana" verwechseln! Die Preise sind dort etwa doppelt so hoch.

Nachtrag von 2016:
Bis 2015 war ich fast jedes Jahr in der Bar "La Campana" zu Gast. Verändert hat sich nicht viel. Auch die Preise sind nur sehr mäßig gestiegen. Mein Spanisch ist inzwischen viel besser geworden, aber die gute Doña Josefina verstehe ich immer noch sehr schlecht. Sie mich aber sehr gut. ;-)


So geht's natürlich auch!
Nachtrag von 2006: Außer dem Seminario Menor, in dem ich 2005 zweimal nächtigte, gibt es noch eine neue private Pilgerherberge Acuario direkt am Pilgerweg in die Altstadt hinein. Laut meinem Pilgerfreund Hans war dort der Schlafsaal mit langen Reihen von Doppelstockbetten zwar riesig, aber sonst alles in Ordnung. Preis 7 EUR. Leider doch gut 2 km von der Kathedrale entfernt.
Sonstige Unterkunftsangebote in Santiago de Compostela mit Adresse und Preis gibt es hier.

Zum Vergleich:
Erlebnisse in Santiago im September 2002 / September 2003 / Juni 2005 / September 2005 / Juli 2006 / September 2007 Juli 2009 Juli 2010 Juni 2013


Nachmittags erkundete ich die Innenstadt, wie üblich auf der Suche nach einem Telefon, um zu Hause anzurufen, und nach einer geeigneten Gaststätte für das abendliche Pilgermenü. Nun, auch in Santiago gibt es die schöne Sitte wie in León, das Menüangebot nur mittags gelten zu lassen, es aber abends noch im Fenster zu haben. Plötzlich traf ich auf "Schnatterente". Sie fiel mir ohne Umstände um den Hals, war glücklich, dass sie ihre "Bande" erfolgreich nach Santiago gescheucht hatte. Nun sagte sie "Auf Wiedersehen". Ich fand es rührend. Sie lobte mich noch einmal wegen meiner Spanischkenntnisse (die sie überschätzte), und wir schieden als gute Freunde. Später löste sich Harald aus seiner Siesta. Gemeinsam holten wir uns im Pilgerbüro die "Compostela". Die Helfer dort hatten wenig zu tun. "Von Saint-Jean? Und alles zu Fuß?" Wir nickten stolz. Alle schauten uns beifällig an, mussten sie doch sicher oft mit den 100-km-Touristen hässliche Diskussionen führen. Bei uns war alles sonnenklar und echt. Ein paar Häuser weiter gab es Fotokopien für 10 Peseten.

Um 18.45 Uhr standen wir vor einem grünen Garagentor. "Wir sind 4 und 5" sagte ich zu den andern Pilgern, die dort schon warteten. Bald kamen weitere, darunter ein Brasilianer, der das Ganze gleich in eine köstliche Komödie verwandelte. Worum ging es?

Nun, der Parador, das Luxushotel an der Kathedrale war früher ein Pilgerhospiz und hat bis heute die Pflicht, 10 Pilger morgens, mittags und abends gratis zu beköstigen (9, 12 und 19 Uhr). Dazu muss man sich durch die Kopie seiner Compostela ausweisen; der Tag der Ankunft darf nicht weiter als zwei Tage zurückliegen. Diesen Spaß mussten wir uns einfach leisten. Am Ende waren wir 5 Deutsche, 2 Brasilianer, 1 Mexikanerin und 1 Französin (durch ein Missverständnis 1 Pilger zu wenig). Also kein Spanier.

Die Spanier interessiert nur eins: Zur Kathedrale, und dann ist Feierabend. Wir sahen ernsthaft, wie einige die Kathedrale erreichten, sich umdrehten, den Rucksack abwarfen und sich mit einem Taxi abtransportieren ließen. Gelaufen wurde keinen Meter mehr.
vergrößern Im Parador ging es quer durch die vornehmen Räume, an festlich gekleideten Gästen vorbei. ("Macht ihr wohl ein ausgehungertes Armer-Pilger-Gesicht!" feixten wir untereinander), dann in die Tiefen der Versorgungsetagen. Ich habe sehr viel gegessen und ordentlich Wein dazu getrunken. Aber einige der anderen waren gar nicht zufrieden. Im Nachhinein stellte ich fest, dass es neben Reis, Gemüse, Kartoffeln und Fischstückchen kein Fleisch gegeben hatte. Na und? Ich habe schon schlechter gegessen. Zum Schluss noch ein Abschiedsfoto mit dem Portier. Es war ein Mordsgaudi.
In der Stadt trafen wir noch so manchen Pilger, den wir mehr oder minder gut kannten, und nahmen von allen Abschied. Geschlafen haben wir lange und gut.


02.09.2000, Samstag: Ruhetag

Stadtbesichtigung und Abschied von weiteren Pilgern. Um 12.00 Uhr Pilgermesse in der Kathedrale, sogar, zu unserer Überraschung mit dem Botafumeiro, dem riesigen Weihrauchfass. Leider schreckte der Touristenrummel auch vor massiver Störung der Messe nicht zurück. Nicht weniger als drei Mal musste der zelebrierende Priester unterbrechen, um mit lauter Stimme das Umhergehen und ungenierte Schwatzen zu untersagen. Helfen tat es wenig. Man musste sich schon sehr konzentrieren, um die wünschenswerte Andacht aufzubringen. Symptomatisch für den Jakobsweg heute!

Abschiedsabendessen mit Heidi, die mit dem Bus noch nach Finisterre gefahren ist. Mit ihr bleibe ich über das Internet in Verbindung.



Zum nächsten Kapitel:
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Letzte Änderung: 02.03.2017