Zu: Im Jahre 2000 auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela

Kapitel 1: Von Saint-Jean-Pied-de-Port nach Pamplona


Autor: Rudolf Fischer
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29.07.2000, Samstag: St.-Jean-Pied-de-Port (0 km)

Um 16 Uhr steigen wir in Saint-Jean-Pied-de-Port aus dem Zug, und schon sind die Tocktocks (tock! tock! machen die Wanderstäbe) zum ersten Mal auf dem Jakobsweg (oder Camino) unterwegs. Mit uns sind ein Dutzend weiterer Pilger ausgestiegen.
vergrößern Harald vor dem Refugio Rue de la Citadelle 27 Wir erreichen die Rue de la Citadelle 27, wo nach unserem Handbuch das Refugio sein soll. Die Leiterin kommt uns entgegen. (Harald ist dran, die Verständigung zu gewährleisten: er ist für Englisch und Französisch "zuständig", ich für Spanisch und Niederländisch.) Kein Platz mehr! (Na ja, darauf waren wir nach einigen Pilgerberichten gefasst.) Privatquartier? Sie schaut in der Nachbarschaft rum, telefoniert einmal. Wir erhalten eine Adresse. Stempel? Nachher, in der Zentrale, schräg gegenüber. Kurz darauf haben wir mit etwas Mühe die Adresse der Unterkunft gefunden. 200 fr für ein sehr einfaches Zimmer sind nicht wenig, aber bezahlbar. Dann zurück und zum Pilgerzentrum. Wir legen unsere Aussendungsurkunde vor und erhalten sofort die Pilgerausweise (und den ersten Stempel).

Auf dem Bild links hält Harald stolz den Pilgerausweis in der Hand. Hinter ihm an der Wand das Wort "Pilgerherberge" in allen möglichen Sprachen, rechts neben seinem Kopf auch auf Esperanto.


Leider hat Heidi, mit der ich mich übers Internet so halb verabredet hatte, keine Nachricht hinterlassen. Sie wollte den Pyrenäenübergang nicht allein machen, und ich hatte ihr angeboten, sich für diese Etappe uns anzuschließen. Na, dann nicht! Stadtbesichtigung; gleichzeitig (so haben wir es immer gemacht) suchen wir schon die Fortsetzung des Jakobsweges, damit wir am anderen Morgen, wenn es vielleicht noch halb dunkel ist, keine Schwierigkeiten haben.

An der Stadtmauer entlang führt mich mein Gedächtnis in Richtung Campingplatz, wo wir 1998 untergekommen waren. Oh Nostalgie! Kaum kommt er in Sicht, fällt mein Blick auf ein Schild: Zur Römerbrücke! Die hatten wir sogar 1998 nicht gesehen. Wegbeschreibung: Zum Campingplatz und vor diesem ca. 300 m um eine Mauer (Tennisplatz) herum nach rechts; dann erreicht man den Fluss und hat bald die Brücke links vor sich. Man kann geradeaus weitergehen. Links sieht man die Pyrenäen, und man kommt an die Kreuzung, wo man andernstags beim Aufbruch loslaufen wird (Schilder). Rechts durch die Stadtmauer geht's dann in die Innenstadt zurück. -
Einkauf und ein letztes Bier (sehr teuer) vor dem Schlafengehen. Nachts muss ich einmal auf die Etagentoilette. Beim Tasten im dunklen Korridor, wo ich den Lichtschalter nicht finde, merke ich, dass wir doch eine Taschenlampe hätten mitnehmen sollen.


30.07.2000, Sonntag: Nach Roncesvalles, 26 km (26 km)

Ich habe den Pyrenäenübergang vor zwei Jahren (aber fast ohne Gepäck) schon einmal gemacht und weiß, was uns bevorsteht. 6.40 Uhr (es ist gerade hell geworden) geht es los. Der Himmel ist bedeckt, aber die Sicht ist gut. Ideal! Kurz hinter der Stadt treffen wir die ersten Pilger, ein französisches Paar. Gerade haben wir die Häuser hinter uns gelassen und tauchen in die herrliche Natur ein. Wie ich mir vorgenommen hatte, stoße ich an diesem Initationsort einen Urschrei aus: Juuaaaaaah! (Übersetzung: "Frei! Raus aus dem Alltag! Wir sind die Fürsten des Camino!") Das französische Paar hinter uns schaut etwas unsicher, fast entsetzt. Sie denken sicher: "Mann, gleich zu Anfang schon der erste Verrückte." (Als ob sich nicht nur Verrückte auf den Jakobsweg machen!)
Später wird sich zu dem französischen Paar ein Belgier gesellen, und wir nennen sie die fröhlichen Franzosen. Wir geben allen, die wir öfter treffen, Spitznamen, denn die meisten Pilger bleiben untereinander anonym. Man fragt selten nach dem Namen, kann sie sowieso nicht behalten, und wer weiß, ob man nicht gerade zum letzten Mal mit seinem Gegenüber redet. Da sind Namen nicht so wichtig.
Ab Hunto geht es ganz steil bergauf, bis zur ersten Quelle. Wir pfeifen beide aus dem letzten Loch. Die blonde Französin trifft auch ein und stillt ihren Durst. Dann geht es weiter bis zur Wegekreuzung mit der Muttergottesstatue (9.50 h). Die Statue ist etwa 50 m links vom Weg. 1998 hatten wir sie vor Nebel gar nicht gesehen. - Nach einer halben Stunde Pause will ich aufstehen und bekomme einen Kreislaufkollaps. "Das war's denn wohl", denke ich nur, als ich mich ganz schnell hinlege und die Augen schließe. Minuten später wuscht etwas über mich hinweg. Harald brüllt vor Lachen: es war ein Geier, der nachschaute, ob ich es schon hinter mir hatte. Vorsichtig auf (mir geht's schon besser) und langsam weiter. Der Weg bis zur Abzweigung zum Pass, die ich noch deutlich in Erinnerung habe, will kein Ende nehmen. (Heidi erzählt uns später, dass wir etwas verpasst haben: abseits des Weges waren 30 Geier dabei, ein totes Pferd zu verknuspern.) vergrößern Rast neben einer Muttergottesstatue an der Einmündung eines weiteren Pilgerweges

Endlich bei der Abzweigung! Dort steht ein französischer Pilgerfreund mit seinem Auto, teilt Trinkwasser aus und macht einem Mut. Nur noch 3 1/2 Stunden bis Roncesvalles! Jetzt wird die Landschaft abwechslungsreicher. Die Rolandquelle, vor 2 Jahren ein trübes Gesicker, ist schön eingefasst und sprudelt kräftig. Umgekehrt habe ich die Quelle an der Ruine der Einsiedelei etwas später (13.00 h, wir sind inzwischen in Spanien) viel schöner in Erinnerung. Nach halbstündigem Schlaf geht es zum höchsten Pass hinauf. Kein großes Problem mehr. Die Sicht ist wunderbar! Inzwischen ist aber auch die Sonne da und brennt. Diesmal gehe ich die Asphaltstraße über den Ibañeta-Pass (und nicht den steilen, kürzeren Waldweg hinunter). Die Straße kommt einem zwar lang vor, aber sie ist ungleich besser zu gehen. Der Ibañeta-Pass (15.00 h) ist voll mit Touristen. Fahrradfahrer posieren für die Kamera. Die schwenkt herum, als wir in Sicht kommen: "Da, echte Fußpilger!" Pah, Touristenvolk! Wir sprechen vor der Kapelle ein Gebet. Dann geht es einen schönen, nicht zu steilen Waldweg nach Roncesvalles. Kurz vor 16 Uhr treffen wir ein, haben ganz schön lange gebraucht.

Vor dem Refugio sitzen fast 50 Pilger und lauern auf Einlass. Eine Frau mit roten Haaren kommt auf uns zu: "Na, ihr müsst die Fischers sein. Nicht zu übersehen." Es ist Heidi. Auf unsere Rückfrage: Sicher habe sie Nachricht im Refugio hinterlassen. Es stellt sich heraus: es gibt zwei Refugios in Saint-Jean, in derselben Straße! Anscheinend ist man sich nicht grün, denn davon hat man uns kein Sterbenswort gesagt. Im Outdoor-Handbuch stand das zweite auch nicht. - Heidi hat sich den Aufstieg geteilt, weil sie Zeit hatte, und hat in Hunto übernachtet (mit tollem Abendessen und Frühstück). Gute Idee!

16 Uhr: Das Refugio wird aufgemacht. Alles stürmt hinein. Nach einigen Turbulenzen stellt sich heraus, dass für alle Betten da sind. Na also. Das Pilgermenü muss man in einem der zwei Restaurants vorbestellen. Wir tun uns mit einem niederländischen Paar, das mit einem Tandem unterwegs ist, und Heidi zusammen. Dann um 20 Uhr in die Pilgermesse. Proppenvoll, an die 130 Pilger. Mittendrin wankt schweißüberströmt noch einer herein: es ist Manfred (Name geändert), den wir später kennen lernen. Zum Abendessen gibt es Makkaroni und Forelle (wie immer, wie ich aus Berichten weiß).

Im Halbdunkel erreiche ich den Schlafsaal. Ein Refugiohelfer kommt mir entgegen. "Gute Nacht, Pater!" Galt das mir? Ich stammele verwirrt einen Dank. Mit meinem langen Vollbart und dem umgehängten Holzkreuz (das Kinder der Heimatpfarre gebastelt haben) werde ich noch oft für einen Priester gehalten, etwa für einen Theologieprofessor mit Elevem = Harald :-) Wir haben manches Mal unseren Spaß damit gehabt. - Der Nachtschlaf ist leidlich. Gottseilob schnarchen auch andere, nicht nur ich.

Als Statistiker konnte ich feststellen, dass etwa jeder 4. Pilger schnarcht, Männer eher als Frauen, je älter, desto schnarcher. Deshalb sollte man unbedingt Ohrenstöpsel mit haben! Heidi hat sich auf der Pilgertour daran gewöhnt; danach gibt es nur noch das Problem, überhaupt wach zu werden.


31.07.2000, Montag: Nach Larrasoaña, 26,5 km (52,5 km)

Nach einem Frühstück in der dunklen Vorhalle und Abschied von den Niederländern geht es kurz vor 7 Uhr, problemlos, ohne Muskelkater, von Roncesvalles los. Um 8 Uhr haben wir Burguete erreicht. Eine Bäckerei und Bar macht gerade auf (etwa 100 m links hinter der Abzweigung des Jakobswegs im Ort). Unser erster Café con leche. Danach geht es bei gutem Wetter durch das bergige Land weiter. Irgendwo soll laut DuMont-Handbuch ein Dolmen sein, nicht gefunden. Hinter einem dunklen Hohlweg durch einen Wald (schon haben wir die ersten Radfahrer im Nacken) eine neue, breit gepflasterte Straße: eine Pilgerautobahn. Na ja, einfach zu gehen, aber ein bisschen steril. Noch eine Bar in Bizkaretta. Hier lernen wir Manfred kennen. Danach ein steiler Aufstieg in voller Sonne. Puh! Auf einer Wiese ruhen wir uns aus und schlafen, während die Tocktocks unablässig vorbeiziehen. Wir wollen es langsam angehen lassen!

Na, es war das erste und vorerst das letzte Mal, dass wir so sorglos mit der Zeit am Vormittag umgingen. Der steile und steinige Abstieg nach Zubiri raubt die letzten Kräfte. Ich will eigentlich nach Larrasoaña weiter, kann in der Sonnenhitze aber nicht mehr gut. Also über die Brücke ins Dorf. Geschäfte geschlossen (Siesta), Mist! Ich brauche Geld, und hier soll ein Automat sein. Etwas weiter an der Hauptstraße rechts in Richtung Refugio finde ich ihn, aber meine Bankkarten machen Schwierigkeiten. Der Schweiß läuft mir in Strömen herunter. Erst mit der 3. Karte bekomme ich Geld. Etwas weiter ist das Refugio. Ohne Aufsicht, mit Hinz und Kunz schon gestopft voll. Na, ich wollte ja sowieso weiter.

Harald meint auch, noch 5 km zu schaffen. Also zurück über die Brücke und nach rechts weiter. - Es wurden fast die schlimmsten Kilometer des ganzen Camino. Nach 1 km treffen wir Manfred. Er ist fertig. Ein anderer Pilger ebenso, setzt nur noch langsam Fuß vor Fuß. Wir nehmen Manfred mit, sprechen ihm Mut zu, rasten alle 500 m. Jedes Mal holt uns der andere Pilger wieder ein. Zu viert nehmen wir einmal einen kräftigen Schluck aus Manfreds Weinschlauch. Endlich in Larrasoaña. Wir haben ganze 3 Kilometer pro Stunde an diesem Tag geschafft.

Ich habe ein Bild für den berühmten Bürgermeister mitgebracht, auf dem er unsere Gruppe vor zwei Jahren begrüßt. Ihro Gnaden ist nicht bei Laune: "Mehr Pilger als ..." schimpft er, und Bilder habe er genug. Dann nicht, Euer Ehren. Um halb acht könnten wir in der Kirche auf den Fußboden. Zu gütig. Ich weiß noch von einer Bar, nicht weit weg, links am Ortsausgang. Dort kaufen wir ein. Wir fragen auch nach Unterkunft. Ob noch Betten frei sind? Die alte Frau muss lange überlegen. Eigentlich nicht. Oder vielleicht doch, genauer gesagt aber nur zwei für uns drei, pro Kopf 3.000 P. Danke sehr, berauben können wir uns selbst. Also doch in die Kirche. - Am Ende war es ganz lustig, dort auf der Orgelbühne zu schlafen. Wohl dem, der eine Isomatte mit hat!


01.08.2000, Dienstag: Nach Pamplona, 15,5 km (68 km)

Morgens bin ich im Dunkeln zum Fluss, um mich zu waschen. Vor der Kirche liegen drei Pilger mit Hund. Das Waschen klappt. Nur springt mir vom Handtuch im Dunkeln ein großer Frosch fast ins Gesicht. Kreisch!

Manfred hat schlimme Blasen. Bei Harald und mir geht es. Der letzte Tag gibt uns zu denken. Die Schnellläufer hatten eindeutig gewonnen. Wir treffen Bernd (Name geändert), der erzählt, dass er schon um 11.30 Uhr in Larrasoaña war und das vorletzte Bett bekam. Also, da war was faul! Wo sollen denn so viele andere Fußpilger noch schneller hergekommen sein? Später hören wir das Gerücht, dass man Beziehungen haben müsse, um in Larrasoaña unterzukommen; d.h. es gibt unter der Hand Reservierungen. Nun, bewiesen ist nichts.

Aber wir machen uns Gedanken: die geplante allmittägliche Siesta im Grünen und das legere Tempo scheinen uns jede Chance auf Betten zu nehmen. Also geht das so nicht! O je, adieu, du beschauliches Pilgern!

Zunächst aber nach Pamplona. Manfred hat sich uns angeschlossen. Er humpelt furchtbar, muss alle 2 km eine Pause machen. Harald und ich schlaffen auch ab, sei es wegen der ungewohnt vielen Pausen, sei es, weil wir auch noch von den beiden vorigen Etappen fertig sind. Und der Weg nach Pamplona ist auch kein Zuckerlecken: immer die Hänge auf und ab. Keine einzige Bar auf dem ganzen Weg; eine Raststelle an der Fernstraße kann sie nicht ersetzen (trotz Wasser und Klo). Dann geht es eine von den Wegeplanern geschickt ausgewählte Route in die Stadt: Man sieht die Industrievorstädte nicht, es geht Parks und kleine Alleen entlang, bis man über eine alte Brücke schon den Stadtkern erreicht hat.


Tipp: Seit April 2005 liegt direkt hinter der Brücke 300 links am Fluss die Pilgerherberge "Casa Paderborn" (24 Betten). Sehr zu empfehlen, wie viele Pilger berichten. Sie wird von den Jakobusfreunden von Paderborn geleitet. Von April bis Oktober geöffnet. Bilder und Beschreibung hier im Netz.


Das Refugio (inzwischen endgültig geschlossen) ist in der Innenstadt ... und ein Schild: "Geschlossen, nächstes Refugio 1,5 km." Es waren "lange" Kilometer, mindestens 3 normale ;-) Von der Innenstadt sehen wir beim Durchqueren fast nichts, aber trotzdem will keiner von uns nachher nochmal so weit zurück. Das andere Refugio (nur im Juli und August) ist eine riesige Turnhalle, mit etwa 120 Betten. Sehr stickig, aber viel Platz, sehr gute Duschen. Hier wird sich erst einmal gepflegt und erholt. Leider lernen wir so von Pamplona nur ein Vorstadtviertel kennen. So werden wir es auch weiterhin auf dem Jakobsweg erfahren: die Erschöpfung steht im Vordergrund und lässt einen gegen alles abstumpfen: die tollsten Kunstschätze, die berühmtesten historischen Stätten, nichts dringt mehr durch die Erschöpfung. Aber auch manches Negative nicht. In den übervollen Refugios ist das sogar hilfreich.


Weitere Informationen über Pamplona, Stand: August 2002

Beim Abendessen bringen wir Manfred schonend bei, dass wir am nächsten Tag lieber allein weiterziehen möchten. Er hat dafür Verständnis. Pilger tun sich selten zusammen. Jeder hat seinen eigenen Rhythmus und möchte sich nicht dauernd mit anderen abstimmen müssen. Auch ist jede Gruppe nur so schnell wie ihr langsamstes Mitglied. Ferner wollen die echten Pilger Ruhe zum Nachdenken haben, Geplauder stört da nur. So haben wir uns zwar gefreut, immer wieder bekannte Pilgerfreunde wie Heidi wiederzutreffen, aber das wurde dem Zufall überlassen, und gelaufen wurde immer getrennt.



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Letzte Änderung: 02.03.2017